Bier statt Champagner: Peter Mattei als immer noch grandioser „Don Giovanni“

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Karita Mattila als Emilia Marty beim Schlussapplaus in der Bastille

Bei sehr gut musizierten Wiedergaben fährt bereits der Beginn der Ouvertüre durch Mark und Bein, dieses Mal jedoch bedauerlicherweise nicht. Giancarlo Rizzi, 1982 geborener, unter anderen bei Leif Segerstam und Lorin Maazel ausgebildeter, italienischer Dirigent der jüngeren Generation, will bereits in der Ouvertüre zu dem von manchen als „die Oper aller Opern“ bezeichneten Werk Mozarts die rechte Spannung weder finden noch aufbauen und setzt sich diese Tendenz bedauerlicherweise über den ganzen Abend hin fort, sodass dieser „Don Giovanni“ über weite Strecken zu lasch daherkommt und nie, was die orchestrale Seite der Derniére dieser Neuproduktion an der Opéra national de Paris in der riesigen Opéra Bastille am 12. Oktober 2024 betrifft, einen Drive entwickeln mag. Dazu kommt eine über weite Strecken unglückliche Tempowahl: Manches wirkt überhetzt, manches verschleppt, sodass sich den ganzen Abend über keine kompakte musikalische Einheit entwickeln kann und sich die Sänger*innen vom Pult allein gelassen fühlen, was deren Gestaltung mancher Arien betrifft. Obwohl der Besuch dieser Produktion allemal lohnt, vor allem, was die exzellente Besetzung und die überzeugende Regie betreffen, stellt dieses langweilig mittelmäßige Dirigat doch einen bitteren Wermutstropfen dar.

Aber sei’s d’rum, man kann sich an einem hervorragenden, erstklassigen Ensemble von Sänger*innen erfreuen. Guilhelm Worms singt mit entwicklungsfähigem Bass einen starken, aufbegehrenden Masetto, gibt der mit lyrischer Emphase eines echten Mozart-Tenors phrasierende Ben Bliss einen überzeugenden Don Ottavio und imponiert John Relyea als Commendatore mit gewaltigem Bass. Auch von den Damen sind ausgezeichnete sängerische Leistungen zu vernehmen: Adela Zaharia mit sicherem, starkem Koloratursopran richtig besetzt als Donna Anna, leidenschaftlich furios wie gleichsam innig berührend Gaelle Arquez mit flutendem Mezzosopran als verzweifelte Donna Elvira und mit feinem Sopran begehrlich gewitzt Ying Fang als Zerlina. Über diese durchwegs hervorragenden Leistungen hinaus gebührt die Krone des Abends aber dem Sänger der Titelrolle sowie dem seines Dieners Leporello. Letzteren präsentiert Alex Esposito mit süffig sattem, vorzüglichem Bass-Bariton, überaus beweglich sowohl was Gesang und Spiel betrifft. Peter Mattei, in der Titelrolle bereits auf vielen Bühnen maßstabsetzend, ist auch an der Bastille immer noch ein ungemein viriler, draufgängerischer, sich über alle Grenzen hinwegsetzender Libertin: Sein wunderbar ebenmäßiger, samtiger Bariton ist hervorragend geführt, klingt im Verlauf des Abends sogar immer besser und besser und hat etwas, was man bei vielen Interpreten des Don Giovanni heute sehr vermisst, nämlich die rollenimmanente Aristokratie in der Stimme als Voraussetzung für eine gelungene Rolleninterpretation.

Was eine gewisse Aristokratie des Stückes betrifft, geht die Inszenierung von Claus Guth nicht immer d’accord, handelt es sich in seiner Deutung bei Giovanni und Leporello um eher einfache, Bierdosen statt Champagnerkelchen den Vorzug gebenden Lebemänner. Ansonsten hat sich der Regisseur aber intensiv mit dem dämonisch abgründigen Stück beschäftigt und sich mit dem Text von Lorenzo Da Ponte auseinandergesetzt. Die an der Bastille gezeigte Produktion ist ursprünglich eine für die Berliner Staatsoper Unter den Linden in Kooperation mit den Salzburger Festspielen entstandene Arbeit, wobei Guth vom Ausstatter Christian Schmidt und Lichtdesigner Olaf Winter unterstützt wurde. Fünfzehn Jahre ist die Inszenierung inzwischen alt, hat aber nichts von ihrer großartig dunklen Atmosphäre wie analytischen Schärfe eingebüßt. Don Giovanni wird bereits zu Beginn vom Komtur mit einer Schusswaffe tödlich verwundet und siecht an dieser Wunde dahin; sein (Über)Lebenswille flackert immer dann auf, wenn eine schöne Frau auftaucht. Eine Höllenfahrt verweigert Guth – zum Schluss hebt der Komtur ein Grab aus, in das Giovanni hineinfällt, und mit seinem Tod geht auch die Oper zu Ende, es gibt kein abschließendes Sextett und Mozart selbst soll ja mit der Höllenfahrt Giovannis Schluss gemacht haben. Schauplatz ist ein dunkler Wald – Spiegelbild einerseits für Giovannis finstere Seele, andererseits für all das seelisch Unbewusste, Unterbewusste, Traumhafte und Triebhafte aller übrigen Handelnden, das an einem solchen Ort gerne zum Ausbruch kommt. Die vielschichtigen Beziehungen der Personen zu- und untereinander, ihre Gefühle und Regungen, werden von Guth in einer zwingenden Personenregie detailreich quasi wie auf einem Sezierteller präsentiert. Wirklich ausgezeichnete Regiearbeiten, das bewahrheitet sich wieder einmal, funktionieren lange und müssen unbedingt immer wieder reaktiviert werden, um dem zunehmenden szenischen Unsinn, mit dem allzu selbstdarstellerische Regisseure ihr Unwesen auf den Bühnen des Musiktheaters treiben, Einhalt zu gebieten. Das Publikum in der Opéra Bastille spendet an diesem Abend vor allem dem hervorragenden Ensemble auf der Bühne langanhaltenden, geräuschvollen Applaus.

Themenschwerpunkte
Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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