„Ihre Stimme war ursprünglich begrenzt, hauchig und schwach – ohne Charme, ohne Flexibilität – ein mittelmäßiger mezzo-soprano … Sie ganz auszugleichen war unmöglich. Es gab einen Teil der Skala, der eine andere Qualität hatte als der Rest, und der zumindest „wie unter einem Schleier“ blieb, um den italienischen Terminus zu gebrauchen. Es gab Noten, die immer mehr oder weniger verstimmt waren, besonders zu Beginn ihrer Aufführungen. … Ihre Studien, um ihre Gesangstechnik zu erreichen, müssen kolossal gewesen sein; aber die Geläufigkeit und Brillanz, einmal erreicht, gewannen einen ganz eigenen Charakter aus den widerspenstigen Besonderheiten ihres Stimmorgans. Da war eine Weite, eine Expressivität in ihren Rouladen, ein Ebenmaß und eine Solidität in ihrem Triller, die jeder Passage eine Bedeutung verliehen, die völlig außer Reichweite von leichteren und spontaneren Sängerinnen liegt. … Aber die größte von allen Tugenden – Tiefe und Echtheit des Ausdrucks – besaß diese bemerkenswerte Künstlerin wie nur wenige vor ihr (vermute ich) und wie niemand, den ich seitdem bewundert habe, sie besessen hat. … Ihr Rezitativ, von dem Moment, wenn sie auftrat, war fesselnd durch seine Wahrheit (Aufrichtigkeit).“
So lautet eines der wichtigsten Zeugnisse über eine der größten Sängerinnen des 19. Jahrhunderts, Giuditta Pasta, von Henry F. Chorley. Der Stimmfreak denkt beim Lesen dieser Zeilen über eine opaque-verhangene Stimme aber auch sofort an sie – an die vielleicht größte Sängerin des 20. Jahrhunderts, die – wie sie genannt wurde – „Primadonna assoluta“, Maria Callas.
Der am 2. Dezember 1923 in Manhattan, New York City, geborenen, von Elvira de Hidalgo ausgebildeten Maria Callas gelang es, durch schon besessen hartes Training und Kasteiung ihre stimmlichen Schwächen phänomenal beinahe unmerklich zu kaschieren, weshalb sie beim Singen auch immer ihre Grenzen überschreiten musste: Welche Torturen muss diese ungemein disziplinierte, hart arbeitende Frau wohl auch diesbezüglich – und nicht nur bezogen auf ihr Privat- und Liebesleben, den Skandalen und den Männern (Giovanni Battista Meneghini, Aristoteles Onassis, Luchino Visconti, Pier Paolo Pasolini) in ihrem Leben, worüber genug Schmutz, Klatsch und Tratsch publiziert wurde und worauf im Rahmen dieser Zeilen bewusst nicht eingegangen werden soll – durchgemacht haben? Das Resultat ihrer Bemühungen, beinahe bis zur Selbstaufgabe, war ein so unverwechselbares Timbre, das schon bei den ersten Tönen als das ihre zu erkennen ist – ein Timbre, das man bedingungslos liebt, weil ihre Stimme direkt ins Herz fährt oder konsequent ablehnt, weil zu penetrant im gewiss höhenscharfen Ton.
Ihr wohl größter Verdienst war es, neben einer ganz aus der jeweiligen Partie entwickelte Darstellung und Rollengestaltung, die Stimmlage des dramatischen Koloratursoprans wieder aufleben zu lassen. Dieser Umstand hatte wiederum zur Folge, dass Opern wie „Anna Bolena“ von Gaetano Donizetti, „La Sonnambula“ und „I Puritani“ von Vincenzo Bellini wieder ins Bewusstsein des Publikums gelangten. Maßstäbe, an denen sich alle Interpretinnen nach ihr messen müssen, hat sie in „Lucia di Lammermoor“ von Donizetti und vor allem als „Norma“ von Bellini – in dieser Rolle ist sie unerreicht und wird sie das auch bleiben – gesetzt, wohl auch als „Tosca“ von Giacomo Puccini und „Medea“ von Luigi Cherubini, ebenso als „La traviata“ von Giuseppe Verdi. Am Beginn ihrer Karriere war sie zudem als Abigaille in „Nabucco“ und als Lady in „Macbeth“ von Verdi richtungsweisend und man darf nicht vergessen, dass sie auch Partien wie „Turandot“ von Puccini, Brünnhilde in „Die Walküre“ und Kundry in „Parsifal“ von Richard Wagner gesungen hat, die beiden Letztgenannten zur damaligen Zeit natürlich nur in Italienisch. Und wäre die Zeit damals reif für das Stück gewesen und wäre es ihre Sprache gewesen: „die“ – gleichsam personifizierte – Verkörperung der Emilia Marty alias Elina Makropulos – einer ganz großen, herrlich wunderbaren Rolle für eine ausgewiesene Sängerdarstellerin, für eine Diva reinsten, höchsten Grades – in „Vec Makropulos“ von Leos Janácek wäre wohl die große Griechin Maria Callas at herself gewesen.
Mit Maria Callas‘ großer Kunst hat auch eine Rückbesinnung auf einen vor-veristischen, ja vor-verdischen Ansatz stattgefunden. Im Ergebnis hat diese Entwicklung dazu geführt, dass bei Wiedergabe einer Rolle wieder starker Wert auf vielfältige Phrasierung, echte Virtuosität und das „Cantabile“ gelegt wurde – Tugenden, die ohne die Callas heute wahrscheinlich zur Gänze aus dem Operngesang verschwunden wären. Dass „La Divina“ in ihrer Bedingungslosigkeit, auch gegen sich selbst, wie eine Kerze, die an beiden Seiten brennt, gleichsam verglüht ist, darf nicht wirklich verwundern; sie war eine Ausnahmeerscheinung in mannigfacher Hinsicht und ist bereits zu Lebzeiten zum Mythos geworden.
Anlässlich des 100. Geburtstags der Sängerin hat Warner Classics nunmehr die umfangreichste Box mit ihren Aufnahmen, die jemals veröffentlicht wurde, auf den Markt gebracht. In dieser Luxusausgabe, 504197473951, sind auf 131 CDs und 3 Blu-rays ihre kompletten Studioaufnahmen, eine umfangreiche Sammlung ihrer besten Live-Mitschnitte (die „Assoluta“ klingt auf der Bühne noch authentischer, noch intensiver als im Studio) und auch einiges bisher unveröffentlichtes Material enthalten.
Ich darf als Empfehlung auf drei (Ton)Dokumente in der Box hinweisen: Ein Mitschnitt des zweiten Aktes von Puccinis „Tosca“ aus dem Royal Opera House Covent Garden London, inszeniert von Franco Zeffirelli, wo es vor allem die Singdarstellerin Maria Callas und ihren Gegenspieler, Tito Gobbi als brutal lüsternen Baron Scarpia, zu bestaunen gilt. Ein Recital mit Arien und Szenen aus „Macbeth“, „Nabucco“, Ernani“ und „Don Carlo“ von Verdi. Und vor allem ihre zweite, 1960 aufgenommene, stimmlich nicht unproblematische Gesamtaufnahme von Bellinis „Norma“ unter Tullio Serafin mit dem aufregenden Franco Corelli als Pollione und der wunderbaren Adalgisa der jungen Christa Ludwig: In dieser auch aufnahmetechnisch einwandfreien Einspielung legt die Callas die gallische Oberpriesterin noch ausdrucksintensiver an als in ihrer ersten Gesamtaufnahme aus 1954 – und macht mit jedem Ton klar, dass „Norma“ im Grunde eine ehern antike Tragödie auswegloser Unerbittlichkeit ist. Man höre die Tigerin, wenn sie Pollione in der dritten Szene des zweiten Aktes allein gegenübertritt und ihm „In mia man alfin tu sei: niun potria spezzar tuoi nodi: io lo posso!“ entgegenschleudert. Und die – nach einem herrischen „M’odi“ – zur selben Melodie gesteigert vorgetragene Phrase „pel tuo Dio, pe‘ figli tuoi giurar die che d’ora in poi“ – gipfelt in einem gleichsam flehentlich wie zornig deklamiertem „Adalgisa fuggirai …“: Das ist – neben der Konfrontation zweier Stimmgiganten – reines, echtes Musikdrama, gleichsam Vollendung eines 1831 uraufgeführten Werkes. Über diese Aufnahme hat Andrew Porter nach ihrer Veröffentlichung in der Zeitschrift „Grammophone“ geschrieben: „Es gibt sicher Leute, die dem Klang von Maria Callas‘ gegenwärtiger Stimme gegenüber taub sind, auf ihren packenden und ausdrucksvollen Ton, wie er seinesgleichen sucht, nicht ansprechen. Diese werden sich an die erste „Norma“ halten. Aber ich persönlich bin mir sicher – wenn ich auch im Traum nicht daran dächte, diese erste ganz aufzugeben – dass es die zweite „Norma“ der Callas ist, die ich mir immer wieder anhören werde, wobei ich mir ihrer Mängel durchaus bewusst bin (sie nicht einmal beschönige), für ihre Schönheiten dafür umso empfänglicher bin. ….. Tatsache bleibt, dass die Stimme der Callas 1954 in der Höhe voller, gefestigter war und sicherer ansprach, dass jetzt aber die Mittellage schöner und ausdrucksvoller klingt und somit eine Interpretation, die immer schon einzigartig war, an Ausdruckstiefe, Kontrastreichtum und dramatischer Schlagkraft gewonnen hat.“ Jedenfalls verfügt diese zweite „Norma“ der Callas über intensiv packendes Niveau – von einem schwebend eindringlichen „Casta Diva“ bis zur mit unvergleichlicher Grandezza und loderndem Brio vorgetragenen Schlussszene.
In Österreich ist Maria Callas im Juni 1956 an der Wiener Staatsoper dreimal als „Lucia di Lammermoor“ von Donizetti aufgetreten – im Rahmen eines Gastspiels der Mailänder Scala bei den Wiener Festwochen; ihr Kniefall vor Herbert von Karajan dabei ist legendär. Die drei Abende sollten die einzigen im Haus am Ring und in der Alpenrepublik bleiben. Eine danach noch geplante „Traviata“ kam nicht zustande, weil sich die prima donna unter den Sängerinnen mit dem primo uomo der Dirigenten überworfen hatte.
Auch Zitate über eine der größten Sängerinnen aller Zeiten werden ihrer durch und durch wahrhaftigen Kunst nicht vollends gerecht – Jürgen Kesting: „Sie ist nie gestorben. Sie ist die ewige Flamme.“ Oder Yves Saint Laurent: „Diva aller Divas, Kaiserin, Königin, Göttin, Zauberin, hart arbeitende Magierin, mit einem Wort: göttlich.“
Wer sich mit Stimme, Gesang und Kunst von Maria Callas intensiv auseinandersetzten will, wird über die brillante Analyse von Jürgen Kesting, Maria Callas, List, nicht herumkommen. Andere Bücher, auch die Neuerscheinungen von Eva Gesine Baur, Maria Callas. Die Stimme der Leidenschaft, Beck, und von Arnold Jacobshagen, Maria Callas. Kunst und Mythos, Reclam, vermitteln diesen Aspekt im Grunde nur am Rande. Spannend, amüsant, pointiert in diesem Zusammenhang ist der Roman von Helmut Krausser, Der große Bagarozy, Rowohlt, zu lesen, worin sich ein merkwürdiger junger Mann als alles andere als ein harmloser Callas-Verehrer entpuppt.
Was das Leben der Maria Callas betrifft, das nicht von ihrer Kunst zu trennen ist, waren die 1950er-Jahre die Dekade der Callas als der großen Opernsängerin, die 1960er-Jahre das Jahrzehnt der Operndiva als Legende und die 1970er-Jahre die Zeit ihres tragischen Verlöschens. Was ihre große Kunst vor allem ausmacht, war die Verbindung der Belcanto-Technik mit der Expressivität des Ausdrucksgesanges. Die unvergleichliche Sängerin ist am 16. September 1977 mit nur 53 Jahren einsam in Paris gestorben. Am 2. Dezember 2023 wäre die „Primadonna assoluta“ 100 Jahre alt geworden: Die einzigartige Sängerin möge unvergessen bleiben.