Etwas von der „stolzen Kraft des siegreich dahinschreitenden Meisters“ (Alfred Orel) spricht aus der fast klassisch anmutenden Geschlossenheit der 1883 in Wien von Hans Richter mit den Wiener Philharmonikern uraufgeführten Symphonie Nr. 3, F-Dur, op. 90, von Johannes Brahms, und zog der Brahms-Biograph Max Kalbeck die „Eroica“, Ludwig van Beethovens dritte Symphonie als Vergleich heran – wenngleich dies nicht wirklich zutrifft, wenn man in Betracht zieht, dass Brahms während der Komposition an seinen ersten beiden Symphonien ständig bestrebt war, sich vom „Riesen“ (Beethoven), den er „auf Schritt und Tritt hinter sich marschieren zu hören“ meinte (Brahms an Hermann Levi), zu befreien und wie er mit diesem symphonischen Werk seinen absolut unabhängigen, eigenen Stil vollendet hat.
Christian Thielemann und die an diesem Vormittag in absoluter Bestform aufgestellten Wiener Philharmoniker setzen dieses Werk auf das Programm des dritten Abonnementskonzertes des Orchesters im Großen Saal des Wiener Musikvereins am 10. Dezember 2023 und mag in dieser Matinee der Formation unter der Stabführung dieses Dirigenten, mit dem sich bereits eine vertrauensvolle, freundschaftliche Partnerschaft entwickelt hat, einfach alles zu gelingen, sprich offenbaren sich nahezu die Herrlichkeiten dieses Werkes. Konzentriert, gerafft, in ganz besonderem Maße die feinnervige Sensibilität wie Leidenschaft ihres Kreators zu Tage bringend, erklingt und erstrahlt die F-Dur-Symphonie in aller orchestraler, philharmonischer Pracht, ja im subtilen Luxussound des Orchesters, den nur wenige Dirigenten den Wiener Philharmonikern zu entlocken imstande sind. Pulsierend, vorwärtsdrängend, ungemein fordernd agiert Thielemann mit zurückgenommener Schlagtechnik vor allem modellierend am Pult und das Orchester gibt ihm alles und fast noch ein wenig mehr, weshalb man zu Aufführungen des Werkes im philharmonischen Abonnement unter Leonard Bernstein und Carlo Maria Giulini zurückgehen muss, um das Werk in einer derartig außerordentlichen Qualität erlebt zu haben. Thielemann bringt sämtliche Nuancen des Werkes differenziert zu Gehör, seien es die häufig auftretenden metrischen Verschiebungen, das Changieren zwischen Dur und Moll, sowie natürlich die satten, vollen und dunklen Klangfarben, für welche die Wiener Philharmoniker ja prädestiniert sind. Der Schlussapplaus kennt jedenfalls keine Grenzen, Thielemann und das Orchester werden vom Publikum zu Recht lautstark gefeiert.
Und vor der Pause im ersten Teil eines nur reinen Hörvergnügen bereitenden Abonnementkonzertes das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2, B-Dur, op. 83, von Johannes Brahms, uraufgeführt 1881 in Budapest. Nach einem wunderbar runden Einsatz der Hörner antwortet Pianist Igor Levit mit allergrößter Ruhe, einfach perfekt, der Steinway klingt angenehm timbriert, nicht zu hart, sodass die Akkorde prachtvoll, füllig, ohne Ecken daherkommen. Der nötige kräftige Zugriff, den nicht nur Brahms‘ erstes Klavierkonzert benötigt, ist über den ganzen Verlauf des Werkes ungetrübt vorhanden. Besonders auffällig ist, dass beide Interpreten ihre Interpretation durchziehen – Thielemann seinen satten, vollen Orchesterklang, orientiert am dichten, reichen Orchestersatz Brahms‘, Levit sein auf Transparenz ausgerichtetes Klavierspiel, das dennoch nie in den Klangwogen der Wiener Philharmoniker untergeht: Die beiden doch vom Ansatz her unterschiedlichen Ausnahmeinterpreten haben in intensiver, ausgefeilter Probenarbeit hervorragend, wunderbar zueinander gefunden. Die Vielfalt der musikalischen Sprache, vor allem des Klaviersatzes, beherrscht Igor Levit – sei es der Wechsel von Spannung und ruhigem Fließen, Dramatik und Weiträumigkeit, sowie unbändige Kraft und höchste Sensibilität.
Im ersten Satz regieren zarte Lyrik und gleichsam schon entfesselte Emotion, ungemein geschlossen und einheitlich gelingt das Scherzo. Die heftigen Akkordfolgen der ersten beiden Sätze bereiten dem Pianisten nicht die geringsten Probleme. Im dritten Satz stimmt Solocellist Tamás Varga traumverloren seine Cellokantilene an, lässt sein Instrument fein schimmern: Wollte er damit an den vor ein paar Tagen unerwartet verstorbenen, ehemaligen Solocellisten des Orchesters, Franz Bartolomey, erinnern? Mit höchstem Ausdruck in den Figuren passt sich Levit dem sonoren Cellospiel an, im kurzen Mittelteil lässt Matthias Schorn mit edlem Ton die zarte, getragene Klarinettenmelodie aufblühen. Wenn dann das Klavier mit hauchfeiner Streicherbegleitung zu hören ist, lassen Levit und Thielemann beinahe die Zeit still stehen. Und im unmittelbar anschließenden, rondoartigen, ungarisch gefärbten Finale findet der Pianist dann zu tänzerischer Gelöstheit bei phänomenaler instrumentaler Brillanz. Nach einem Auftritt nicht ganz ohne Allüren und dem Publikumsjubel bedankt sich Igor Levit mit einer innigen Zugabe von Johann Sebastian Bach.