„Die Meistersinger von Nürnberg“ sind bedauerlicherweise durch eklatanten Missbrauch während des NS-Regimes ein enorm stark belastetes Werk, weshalb die Auseinandersetzung, sprich musikalische wie szenische Realisierung, dieses absoluten Meisterwerkes immer eine besonders schwierige Herausforderung für Regisseur, Dirigenten und Protagonisten bedeutet. Und um es gleich vorwegzunehmen: In der Aufführung am 10. Mai 2024 im Teatro Real in Madrid ist echtes Musiktheater vom Allerfeinsten zu erleben, ja zu bewundern, stehen doch Musik und Szene in selten perfektem Einklang zu- wie miteinander.
Das liegt zum Ersten am fließend flüssigen, feinen wie schwerelos daherkommenden Dirigat vom Ersten Gastdirigenten des Hauses, Pablo Heras-Casado, der, ohne Baton dirigierend, die komplexe Polyphonie der „Meistersinger“ in mild leuchtenden Klängen erstrahlen lässt. Aus dem überraschend – die Formation stellt kein genuines Wagner-Orchester dar – idiomatisch musizierenden, in allen Instrumentengruppen sehr gut disponierten Orquesta Titular del Teatro Real ragen das fein abgetönte Holz wie die sanft schimmernden, vom Dirigenten in betont geschmeidigen Linien gezogenen Streicher besonders hervor, sodass man unweigerlich an die in mediterranes Licht getauchten Bayreuther Dirigate von Andre Cluytens in den 1950er-Jahren erinnert wird. Eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass dieser meisterhaft agierende Dirigent immer die Bühne im Auge hat, die SängerInnen auf Händen trägt, weshalb das Gesamtbild eine nahezu schwebende Großartigkeit ergibt. Meisterhaft agiert auch der von José Luis Basso einstudierte und für seine schwere Aufgabe hervorragend präparierte Chor des Hauses, von dem prächtig schallender wie fein deklamierter Chorgesang zu vernehmen ist, der am Schluss zu imponierender, atemberaubender Größe anschwillt.
Die weitgehend perfekte Textverständlichkeit, die der Chor an den Tag legt, ist auch an den SängerInnen zu bestaunen im Hinblick auf die Tatsache, dass es sich nur beim vom äußerst präzise wie prägnant singenden Tenor Sebastian Kohlhepp um einen Native Speaker handelt. Die Gesamtqualität des ungemein homogenen SängerInnenensembles, dessen Wortdeutlichkeit besonders hervorgehoben werden muss, hat Festspielniveau. Anna Lapkovskaja singt mit dunklem Mezzo eine humorige Magdalene, Nicole Chevalier gefällt trotz gelegentlicher stimmlicher Schärfen ihres Soprans mit einer beseelten Gestaltung der Eva. Jongmin Park mit profundem, wohlklingendem Bass beeindruckt als Veit Pogner; Tomislav Muzek wächst mehr und mehr in die Rolle des Walther von Stolzing hinein mit seinem lyrischen, sehr gut fokussierten wie schmelzreichen Tenor. Eine Charakterstudie allererster Güte liefert der mit messerscharfer Artikulation aufwartende Sixtus Beckmesser von Leigh Melrose, der mit starkem Bariton in der Rolle zwischendurch auch zu berühren weiß und die Figur jeglicher Lächerlichkeit beraubt. Als Hans Sachs aufgeboten ist ein hervorragend disponierter, ausgezeichneter Gerald Finley als Hans Sachs, dessen warm timbrierter, weicher Bass-Bariton auch genügend Kraft und Schärfe für die phonetisch heiklen Stellen der Partie hat. Als intelligenter Sänger teilt er sich die ungemein fordernde Riesenpartie perfekt ein, weshalb er auch noch in der großen Schlussansprache über stimmliche Autorität verfügt. Zudem verleiht er der Rolle eine gewisse Aristokratie, weshalb die Intention des Komponisten, den vielgeschähten Schlussmonolog eigentlich von Kaiser Maximilian I. singen zu lassen, voll aufgeht, was auch in der Inszenierung ihren gewissen Niederschlag findet. Alle übrigen Meistersinger finden ebenso ihre volle Entsprechung – Jóse Antonio López (Fritz Kothner), Paul Schweinester (Kunz Vogelgesang), Barnaby Rea (Konrad Nachtigall), Albert Casals (Balthasar Zorn), Kyle van Schoonhoven (Ulrich Eisslinger), Jorge Rodríguez Norton (Augustin Moser), Bjorn Waag (Hermann Ortel), Valeriano Lanchas (Hans Schwarz) und Frederic Jost (Hans Foltz) sowie der bassstarke Alexander Tsymbalyuk als Nachtwächter.
Der komplexen wie verantwortungsvollen Aufgabe, die „Meistersinger“ szenisch adäquat umzusetzen hat sich der französische Regisseur und Kostümbildner Laurent Pelly, von dem sich einige seiner Inszenierungen seit vielen Jahren auf Spielplänen internationaler Opernhäuser finden, gestellt. Und der Regisseur, der auch die zeitlosen, historisierend angehauchten Kostüme entworfen hat, setzt sich mit diesem außerordentlichen Werk besonders intensiv auseinander. Das Bühnenbild wird von Caroline Ginet beigesteuert – die hohen Wände links, rechts und mittig gemahnen an die Ruine der im Zweiten Weltkrieg zerbombten Kirche St. Katharina in Nürnberg, wo Wagner den ersten Akt seiner „Meistersinger“ spielen lässt. Die die Bühne dominierenden, aufgeschichteten Papphäuser mit ihren Zwischengängen für Auf- und Abtritte erinnern an das Panorama der alten Bürgerhäuser in Nürnberg, betrachtet von der Burg aus: Das historische Nürnberg des 16. Jahrhunderts ist werkimmanent mit dieser Inszenierung verflochten. Ebenso deutlich herausgearbeitet werden vom Regisseur die beiden anderen Ebenen des vielschichtigen Werkes – das prophetische Johannesmysterium wie die wehmütige Entsagungsthematik Hans Sachs betreffend. Die ganze Szene wird von Urs Schönebaum in stimmig plastisches, magisches Licht getaucht, sodass großes Kino entsteht, was durch die großartigen darstellerischen Leistungen aller Mitwirkenden auf der Bühne noch unterstrichen wird. Personenregie wie Personenführung geraten Pelly exzeptionell, exzellent: Sämtliche Charaktere sind beinahe schon ein wenig grotesk überakzentuiert herausgearbeitet, die betonte Mimik der SängerInnen bringt das Wesen der jeweiligen Figur ganz hervorragend zum Ausdruck. Psychologisch fundiert, ganz subtil werden die Beziehungen aller handelnden Personen zueinander dargestellt. Schmunzeln kann man vielleicht mitunter in dieser Deutung der „Meistersinger“, Pelly vermittelt jedoch klar und deutlich, dass es sich bei diesem Werk um keine Komödie handelt, wo man sich vor Lachen auf die Schenkel klopfen mag, würde doch dieses Lachen sofort im Halse stecken bleiben. Die über den Maßen gelungene Inszenierung ist von Anfang bis zum Schluss, wie es sein sollte und heute bedauerlicherweise immer weniger der Fall ist, zur Gänze aus Text und Musik entwickelt, durchdacht und gestaltet, beeindruckt in ihrem tiefen Gehalt wie ihrer ungemeinen Dichte und wird als Koproduktion auch an der Königlichen Oper Kopenhagen und dem Nationaltheater Brno gezeigt werden.
Am Ende dieses Abends gibt es zu später Stunde eine halbe Stunde vor Mitternacht zu Recht nicht enden wollende Begeisterung und Publikumsjubel für alle Beteiligten. Der Ausflug nach Madrid hat wegen dieser „Meistersinger“ mehr als gelohnt.