Bach spröde, Chopin schwermütig, Schumann feinsinnig – Grigory Sokolov im Wiener Konzerthaus

Grigory Sokolov © Klaus Rudolph

Im Zyklus Klavier im Großen Saal im Wiener Konzerthaus war am 22. Mai 2024 wieder einmal der Zauberer unter den Weltklassepianisten zu Gast – Grigory Lipmanowitsch Sokolov. Und wie gewohnt hat er ein spannendes, außergewöhnliches Programm vorbereitet.

Im ersten Teil des Konzertes spielt der Ausnahmepianist Werke von Johann Sebastian Bach: Zu Beginn erklingen die Vier Duette BWV 802-80 aus Clavier-Übung III, wo der Steinway noch ein wenig holprig klingt, was aber irgendwie im Einklang mit der betont schnörkellosen, spröden Interpretation Sokolovs steht. Nahtlos angeschlossen wir die herrliche Partita Nr. 2 c-moll BWV 826, wo der Pianist nach dominanter Einleitung in der Sinfonia vor allem mit der ungemein gesanglich gespielten Sarabande das Publikum in seinen Bann zieht.

Nach der Pause geht es zuerst mit Frederic Chopin weiter, und zwar mit den vier Mazurken op. 30 und den drei Mazurken op. 50 aus der Feder des feinfühligen Komponisten. Und so schwermütig wie gestern von Sokolov hört man diese Kleinode der Klaviermusik selten. Begeistern vermag der Stoiker Sokolov, der mit seinem grimmen Klavierspiel auch bei Chopin kaum Pedal nimmt, mit der brillant interpretierten Mazurka op. 30 Nr. 3 Des-Dur und der wehmütig vorgetragenen Mazurka op. 50 Nr. 3 cis-moll, die zu den kunstvollsten aus der Feder Chopins zu zählen ist.

Zum Schluss vermag der Tastenzauberer Sokolov, von winzigen Unsauberkeiten abgesehen, mit sehr feinsinnig wiedergegebenen Waldszenen op. 82 von Robert Schumann zu faszinieren. „Einsame Blumen“ klingen träumerisch innig, „Vogel als Prophet“ gelingt schwebend hingehaucht, „Jaglied“ trumpft nahezu heroisch auf und „Abschied“ fließt ruhig aus.

Natürlich lässt sich der ohne Gefühlsregungen auftretende Pianist wiederum zu sechs (!) Zugaben hinreißen: Der Reigen reicht vom Prélude e-moll op. 11 Nr. 4 von Alexander Skrjabin über die Mazurken op. 63 Nr. 3 cis-moll sowie op. 68 Nr. 3 F-Dur und die Ètüde op. 25 Nr. 2 f-moll von Chopin bis zur Chaconne g-moll von Henry Purcell und, zum Schluss, „Ich ruf‘ zu Dir, Herr Jesu Christ“ BWV 638 aus dem Orgel-Büchlein von Bach, wo sich der Kreis zum überaus schlichten Beginn des Recitals schließt. Stehende Ovationen des Publikums begleiten Sokolov bei seinem Abgang.

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Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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