„Vec Makropulos“ des Weltmusik aus der mährischen Provinz schaffenden Leos Janácek wird bedauerlicherweise nach wie vor nur selten gespielt, handelt es sich bei der ungemein fordernden Hauptpartie der Emilia Marty doch um eine Protagonistin, die nicht nur gesanglich, sondern auch darstellerisch Übermenschliches leisten muss, weil sie eine der anspruchsvollsten und herausforderndsten Rollen ist, die es auf der Opernbühne für eine Singdarstellerin allererster Güte gibt – ein Fall für das „interessante Fach“, wie es der ehemalige Wiener Staatsoperndirektor Ioan Holender einmal nannte. Wie stellt man dar, dass ein Mensch schon 337 Jahre lang auf der Erde herumgegangen ist, was er natürlich erst einmal nicht verraten will, was sich aber doch immer wieder geheimnisvoll zeigen muss? Wie sieht ein Körper aus, dessen Existenz mit einem Lebenselixier verlängert worden ist? In welcher biologischen Lebensphase ist er stehengeblieben?
Emilia Marty in „Die Sache Makropulos“ ist eine ganz große, herrliche, wunderbare Rolle für eine ausgewiesene Sängerdarstellerin, für eine Diva reinsten, höchsten Grades: Wäre die Zeit damals reif für das Stück gewesen und wäre es ihre Sprache gewesen – „die“, gleichsam personifizierte, Verkörperung der Elina Makropulos alias Emilia Marty wäre wohl die große Griechin Maria Callas gewesen.
Wenige Sängerinnen haben Emilia Marty glaubwürdig verkörpert, wenige überhaupt gesungen. Elisabeth Söderström auf Schallplatte, Jessye Norman mit ihrer einzigartigen Stimme an der Metropolitan Opera in New York, die für die Ewigkeit Maßstäbe setzende Anja Silja, für die Janácek die späte, große Liebe ihres Lebens geworden war, gleich in mehreren Produktionen, Angela Denoke bei Krzysztof Warlikowski in Paris und Christoph Marthaler in Salzburg, um nur die Besten zu nennen. Glaubwürdige Interpretinnen im letzten Jahrzehnt waren Nadja Michael bei Arpad Schilling in München, Evelyn Herlitzius in Berlin und Rachel Harnisch bei Kornel Mundruszko in Antwerpen und Brno. Hildegard Behrens hat Emilia Marty ebenso verkörpert, Marlis Petersen hat sie in der jüngsten Vergangenheit bei Claus Guth an der Berliner Staatsoper gestaltet. Einfach formidabel war im vergangenen Herbst auch Karita Mattila in Paris in Warlikowskis wiederaufgenommener Kultinszenierung an der Bastille gewesen.
Und jetzt die aus Vilnius in Lettland stammende Ausrine Stundyte, der an der innovativen Opéra de Lyon sowohl in stimmlicher als auch in darstellerischer Hinsicht ein überragendes Rollenporträt der E. M. zu attestieren ist. Opfer und Täterin zugleich ist sie, femme fragile wie femme fatale, mit ihrem über den Maßen überzeugenden Spiel, mit ihrem fulminanten Gesang. Die große Sopranstimme ist perfekt fokussiert und versteht es Ausrine Stundyte ganz hervorragend, diese Stimme zu führen wie zum Leuchten zu bringen. Ihre Ausrufe und Bekenntnisse im dritten Akt, Seelenschreien gleich, gehen förmlich unter die Haut, fahren direkt ins Herz: Nach Anja Silja, vielleicht noch Karita Mattila, hat es wahrscheinlich bis dato keine Sängerin gegeben, welche diese komplexe Rolle für eine Sopranistin derart bewegend gestaltet hat. Einfach fabelhaft gerät dieses Porträt, bedingungslos, kompromisslos. Gleichsam verführerisch, lyrisch sanft wie unbarmherzig kalt, scharf klingt diese Stimme, immer rollenimmanent, um im hymnischen Schluss förmlich aufzuglühen.
Der exzellenten Sängerin zur Seite steht im aus Island stammenden Tómas Tómasson als Baron Jaroslav Prus ein echter Gegenspieler, ein Sänger, der vokal mit seinem kräftig hellen, kalten Bariton wie auch darstellerisch mit präsentem Spiel zu überzeugen weiß. Und auch sämtliche andere Rollen sind, was die Stimmcharaktere betrifft, auf den Punkt genau besetzt: die schönstimmige Mezzosopranistin Thandiswa Mpongwana als Krista und der leicht übersteuernde Tenor Denys Pivnitskyi als Albert Gregor, und, mit einheitlich feinen Charakterstudien, Károly Szemerédy als Doktor Kolenatý, Paul Curievici als Vitek, Robert Lewis als Janek und Marcel Beekman als Graf Hauk-Sendorf, alle Genannten werden von der Regie auch zu freudigem Spiel auf der Bühne animiert.
Die musikalische Umsetzung von Janáceks später Partitur, die zur besten Musik des 20. Jahrhunderts überhaupt zu zählen ist, gelingt in Lyon auf ebenso spektakuläre Weise. Alexander Joel am Pult des Orchestre de l’Opéra de Lyon legt von Beginn an eine forsche, zügige Gangart an den Tag, Janáceks blühende Lyrismen, das melosartiges Fließen wie die hämmernden Schläge der kleinzeiligen, ganz aus der mährischen Sprachmelodie heraus entwickelten Musik nicht aussparend, geht er ans Werk und das in allen Gruppen sehr gut disponierte Orchester folgt dem Dirigenten bereitwillig. Von Beginn an steht dieser Abend unter Hochdruck, ja unter Hochspannung, und kann diese vom Dirigenten, der das Stück förmlich durchpeitscht, die Akte unmittelbar aufeinander folgen lässt, bis zum nahezu kathartischen Schluss gehalten werden.
Die Inszenierung dieser Neuproduktion von „L’affaire Makropulos“ in tschechischer Originalsprache hat der Hausherr in Lyon, Intendant Richard Brunel, selbst kreiert und das Stück – logischerweise und völlig korrekt – ganz auf die Hauptfigur Emilia Marty fokussiert. In der äußerst geschmackvollen Ausstattung von Bruno de Lavenére und dem stimmigen Licht von Laurent Castaingt entstehen bisweilen magische Bilder, wobei Brunel ganz ohne Verfremdungen, Rahmenhandlungen, Neudeutungen sowie Videos auskommt. Die Personenführung ist subtil, psychologisch fundiert, die Beziehungen der handelnden Charaktere zueinander zwingend herausarbeitend. Alle Mitwirkenden werden vom Regisseur auch in Bezug auf ein betont gestenreiches Spiel stark gefordert. Die Szenerie changiert zwischen Naturalismus und Surrealismus, vor allem ein Regiekniff ist bemerkenswert: Brunel zeigt Emilia Marty als höchst attraktive Frau, die weiß, was sie will. Bereits während der inszenierten Ouvertüre hat sie einen Anfall und bricht zusammen, wodurch eine Situation entsteht, die als eine Art szenisches Leitmotiv immer wiederkehrt und sich derart das Nachlassen der Wirkung des Elixiers zeigt und nicht in einem während der Handlung einsetzenden Alterungsprozess. Die Bühne ist horizontal zweigeteilt, darauf befinden sich die Anwaltskanzlei im ersten, die Operngarderobe im zweiten, das Hotelzimmer, welches wie bei Marthaler in Salzburg an einen Gerichtssaal erinnert, im dritten Akt. Die Räume auf den Ebenen bewegen sich, verbunden durch einen Treppenturm, der quer über die Bühne fährt. Permanent tauchen alte Männer auf: Die Verehrer von E. M., die auch für ihre Verletzungen und schließlich ihre Seelenkälte verantwortlich sind? Am Ende wirft Emilia Marty das verlangte Dokument mit der Formel des Lebenselixiers in die aus einem Klavier aufflackernden Flammen: Brunel gelingt in diesem Opernkrimi ein ungemein packendes Schlussbild! Der Publikumsjubel schwillt auch in der Aufführung am 22. Juni 2024 im nicht ganz voll besetzten Haus groß an.