Erinnerung an einen Klangmagier – Herbert von Karajan zum 35. Todestag

Herbert von Karajan © Siegfried Lauterwasser

Karajan war einer der größten Dirigenten aller Zeiten und eine der größten Persönlichkeiten, die ich je getroffen habe. Er erschien mir immer wie ein großer Vogel mit weiten Schwingen. Wir weilten unten auf der Erde, doch er überflog die Welt und betrachtete sie aus einer viel höheren Perspektive. Seine großen Ideen hat er tatsächlich auch verwirklicht. Ein Genie wie Karajan gibt es nur sehr selten in unserer Welt.” (Mariss Jansons)

Am 16. Juli 2024 jährt sich zum 35. Mal der Todestag des am 5. April 1908 in Salzburg geborenen und am 16. Juli 1989 in Anif verstorbenen österreichischen Dirigenten Herbert von Karajan, den man getrost als den markantesten Dirigenten des 20. Jahrhunderts bezeichnen kann. Unerbittlich in musikalischen wie in organisatorischen Dingen war er: Dafür und für seine eiserne Disziplin bewunderte und fürchtete man ihn, der in ungekannter Weise Einfluss in den großen musikalischen Zentren Europas – Berlin, Mailand, Paris, Salzburg und Wien – ausgeübt hatte.

Kann man seinen Dirigierstil als höchste Präzision bei immer kontrollierter Ekstase bezeichnen, hat er in seinem Musizierstil permanent höchsten Wert auf den Klang gelegt, idealisiert wurde von ihm ein „entmaterialisierter, geglätteter, stromlinienförmiger Klang, der alle Körperlichkeit und Ansatzgeräusche bei der Tonbildung vermeidet.“ Beeindruckende Ergebnisse erzielte er damit bei Werken des Klangsensualisten Richard Strauss, bei den Impressionisten Claude Debussy und Maurice Ravel und auch bei Jean Sibelius, der, nach Angabe seiner Tochter Eva, Karajan für den Dirigenten seiner Generation, der die größte Einfühlung in seine Musik aufgebracht hat, hielt. Den Klangmagier Karajan aber auf diese wenigen Komponisten zu reduzieren, wäre verfehlt, zählen doch auch seine Interpretationen von Werken von Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms, Peter Iljitsch Tschaikowsky, Anton Bruckner und Gustav Mahler ebenso zu den herausragenden wie von Werken der Zweiten Wiener Schule, bei deren Wiedergabe Karajan an Klangsinnlichkeit wahrscheinlich nicht zu übertreffen ist. Und wer erfahren möchte, was Dichte und Tiefe bei den großen Chorwerken – Hohe Messe h-moll und Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach, Missa solemnis und IX. Symphonie von Ludwig van Beethoven, Ein deutsches Requiem von Johannes Brahms und Giuseppe Verdis Messa da requiem – bedeutet, wird auch an Karajan nicht vorbeikommen. Mit den beiden letztgenannten Werken hat er mir im Wiener Musikverein gegen Ende seines Dirigentenlebens Stunden beschert, die ich zu den schönsten überhaupt in meinem Leben zählen darf.

Selbstverständlich nicht zu vergessen sind auch seine Operninterpretationen: Die Werke der fünf „Operngötter“ – Wolfgang Amadeus Mozart, Richard Wagner, Giuseppe Verdi, Giacomo Puccini und Richard Strauss – waren bei ihm immer in den allerbesten Händen; was Wagner und Strauss betrifft, zählt er ohne Umschweife ohnehin zu den besten Dirigenten aller Zeiten.

Über den Maßen zahlreich war auch seine Aufnahmetätigkeit. Aus dem überreichen Fundus herausgegriffen seien vier (!) Gesamtaufnahmen der Symphonien von Ludwig van Beethoven, wobei der erste Zyklus mit den Berliner Philharmonikern 1961 Aufnahmegeschichte geschrieben hat. Mit seinem Berliner Orchester gewann Karajan den begehrten Gramophone Award in der Kategorie „Best Orchestral“ für zwei verschiedene Aufnahmen der IX. Symphonie von Gustav Mahler (Studioaufnahme 1981, Konzertmitschnitt 1984), wobei der Konzertmitschnitt von Gramophone auch zur Aufnahme des Jahres gewählt wurde. Fulminant geraten ist „Eine Alpensinfonie“ von Richard Strauss, wobei das Berliner Philharmonische Orchester an Klangpracht, Perfektion und Strahlkraft unüberbietbar scheint und ist dieses Stück auch die erste Veröffentlichung eines klassischen Werkes überhaupt auf Compact Disc. Trotz mitunter problematischer Besetzungen ist Karajans Einspielung von Wagners „Der Ring des Nibelungen“, was das Orchester betrifft, immer noch die Beste im Katalog. Wer hören möchte, was Wagner unter „Mischklang“ vorgeschwebt haben mag, sei auf Karajans wohltönende, klanglich nahezu vollendete Gesamtaufnahme von „Parsifal“ verwiesen. Seine letzten Aufnahmen mit den Wiener Philharmonikern von Anton Bruckners VII. und VIII. Symphonie geben beide Werke in zuvor noch nie gehörter Schönheit wieder. Unbedingt empfehlenswert sind auch die Aufnahmen der Symphonien 4, 5, 6 und 7 von Jean Sibelius aus den 1960er-Jahren.

Zum Schluss soll der „Chef“, wie Karajan von Wiener Musikfreunden auch heute noch immer genannt wird, in zehn ausgewählten Zitaten selbst zu Wort kommen:

„Lärm ist der hörbare Müll unserer Zivilisation.“

„Fanatismus ist die hochexplosive Mischung von Engstirnigkeit und Energie.“

„Wer die Form zerstört, beschädigt auch den Inhalt.“

„Jeder künstlerische Sieg ist ein Sieg über die menschliche Trägheit.“

„Orchester haben keinen eigenen Klang; den macht der Dirigent.“

„Der Rhythmus ist für mich der Grund aller Dinge. Mit dem Rhythmus beginnt das Leben, mit dem Herzschlag.“

„Ich bin nicht geboren, um dirigiert zu werden.“

„Wenn ich die Berliner auffordere, vorzutreten, tun sie es. Wenn ich die Wiener auffordere, vorzutreten, tun sie es, aber dann fragen sie, warum.“

„Der Dirigent ist ein Facharbeiter, der zwanzig Jahre Berufsausbildung benötigt.“ 

„Wer alle seine Ziele erreicht, hat sie wahrscheinlich zu niedrig gewählt.“

Seine letzten Lebensjahre müssen für den stark an Mobilität eingeschränkten Dirigenten, für den Bewegung zeitlebens alles war, ein Martyrium gewesen sein. Dass er dennoch mit eiserner Disziplin bis an sein Lebensende dirigiert hat, war ein Sieg des Geistes über die Physis.

Themenschwerpunkte
Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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