Im Rückblick: Die Highlights in Oper und Konzert 2024

Riccardo Muti, Lieblingsdirigent der Wiener Philharmoniker, sorgte 2024 für denkwürdige Interpretationen von Beethoven und Bruckner © Ronald Zak

Bevor, was die Musik betrifft, das alte Jahr 2024 am 31. Dezember 2024 mit dem Silvesterkonzert der Wiener Philharmoniker unter Riccardo Muti im Musikverein unvergleichlich zu Ende geht, sei an dieser Stelle ein kleiner Rückblick auf die Höhepunkte des sich zu Ende neigenden Jahres gestattet.

  • Oper

Im März stand bei den Osterfestspielen in Baden-Baden ELEKTRA von Richard Strauss auf dem Programm. Im tief hinuntergefahrenen Orchestergraben des Festspielhauses lassen Kirill Petrenko und die Berliner Philharmoniker ein formidables Wunder an orchestraler Ausgewogenheit was Balance, Dynamik, Transparenz, Analytik wie Klangeruptionen, wo gefordert, betrifft, ertönen. Was die Regie von Philipp Stölzl und Philipp M. Krenn betrifft, steht unangefochten die komplexe Musik im Vordergrund, wenn die beiden auf der groß dimensionierten Bühne intensive, bisweilen beklemmende Seelenbilder entstehen lassen. Noch einmal, wohl zum letzten Mal bei einer Premiere, wird die Titelrolle von der Schwedin Nina Stemme verkörpert, die alle ihre Reserven, die ihrem hochdramatischen Sopran zur Verfügung stehen, mobilisiert und an diesem Premierenabend noch über alles, was für diese extrem fordernde Partie vom Komponisten verlangt wird, verfügt: Wärme, Schärfe, Kraft, Stahl und Strahl in der Stimme.

Eine sprituelle Erfahrung war der kolossale SAINT FRANCOIS D’ASISSE von Olivier Messiaen im März in Genf. Regisseur Adel Abdessemed, der auch für Ausstattung und Video verantwortlich zeichnet, lässt sich ganz auf die mediative Atmosphäre, die Messiaens Werk und seiner Musik innewohnt, ein – und nimmt das Werk in seiner franziskanischen Innerlichkeit ernst. Gott ist Liebe, Freude und Schönheit: Höchst überraschend greift der bisher mit seinen Arbeiten mitunter verstörende Künstler diese zentrale Idee des gesamten Schaffens Messiaens auf. Messiaens höchst kontemplative Musik lotet Jonathan Nott mit dem fein glühenden, sinnlich timbrierten Orchestre de la Suisse Romande fein aus, exzellent, was die herrlichen Klangfarben betrifft, kammermusikalisch filigran, und derart mit ganz großer, magischer Sogkraft. Vordergründig plakativ, dynamisch überwältigend, ist nichts an dieser verinnerlichten Interpretation; durch die enorme Spannung, die Nott erzeugt und den ganzen überlangen Abend hindurch halten kann, entfaltet sich eine nahezu fesselnde Langsamkeit bei schier überwältigender Leuchtkraft. Bariton Robin Adams als Francois klingt immer präsent, ohne jegliche Ermüdungserscheinungen über den ganzen, überlangen Abend kräftig und ungemein viril: Das ist ein im Kern gesunder, durch und durch dem Leben zugewandter Mann – nicht ein Leiden am eigenen Körper nachvollziehender, die Stigmata Christi empfangender, leiser Schmerzensmann. Das gesangliche Interpretationskonzept des Briten passt aber genau zur weltzugewandten Regiearbeit von Abdessemet.

Im Wonnemonat Mai begeistern in Madrid DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG von Richard Wagner. Mit seinem fließend flüssigen, feinen wie schwerelos daherkommenden Dirigat am Pult des Orquesta Titular del Teatro Real lässt Pablo Heras-Casado die komplexe Polyphonie des Werkes in mild leuchtenden Klängen erstrahlen. Aus der überraschend idiomatisch musizierenden, in allen Instrumentengruppen sehr gut disponierten Formation ragen das fein abgetönte Holz wie die sanft schimmernden, vom Dirigenten in betont sanften Linien gezogenen Streicher besonders hervor, sodass man unweigerlich an die in mediterranes Licht getauchten Bayreuther Dirigate dieses Werkes von Andre Cluytens in den 1950er-Jahren erinnert wird. Deutlich herausgearbeitet werden von Regisseur Laurent Pelly die drei Ebenen des vielschichtigen Werkes – das historische Nürnberg des 16. Jahrhunderts, das prophetische Johannesmysterium wie Hans Sachs‘ wehmütige Entsagungsthematik. Personenregie wie Personenführung geraten Pelly exzeptionell, exzellent: Sämtliche Charaktere sind beinahe schon ein wenig grotesk überakzentuiert herausgearbeitet, die betonte Mimik der SängerInnen bringt das Wesen der jeweiligen Figur ganz hervorragend zum Ausdruck. Diese Inszenierung vermittelt klar und deutlich, dass es sich bei diesem Stück um keine Komödie handelt, wo man sich vor Lachen auf die Schenkel klopfen mag, würde dieses Lachen doch sofort im Halse stecken bleiben. Und als Hans Sachs aufgeboten ist ein hervorragend disponierter, ausgezeichneter Gerald Finley, dessen warm timbrierter, weicher Bass-Bariton auch genügend Kraft und Schärfe für die phonetisch heiklen Stellen der Partie hat.

Musiktheater vom Feinsten gab es auch bei den Salzburger Festspielen im Sommer, wo DER IDIOT von Mieczyslaw Weinberg in der Felsenreitschule produziert wurde. Weinberg, dessen musikalische Sprache zwar stark von seinem Förderer Dmitri Schostakowitsch geprägt ist, findet einen überzeugenden, eigenen Stil, der Groteske, Hysterie und allzu Schrilles in der Instrumentierung vermeidet. Derart entstehen fließende Linien – prädestiniert für das wohl beste Opernorchester überhaupt, die Wiener Philharmoniker, die für diese Produktion zum ersten Mal mit der litauischen Dirigentin Myrga Grazinyte-Tyla zusammenarbeiten, die sich viel Zeit für diese Musik nimmt und damit dem Werk aufmerksam, engagiert wie höchst empfindsam und differenziert auf den Grund geht. Für die Hauptfigur, Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin, hat Weinberg feintenorale Endloskantilenen geschaffen, die Bogdan Volkov mit lyrischer Emphase einfach perfekt vorträgt, Leben und Leiden dieses Schmerzensmannes stimmlich in allen Nuancen grandios gestaltend. Glücklicherweise dringt sein obertonreicher Tenor dank gekonnter Stimmführung und tatkräftiger Unterstützung vom Pult immer durch das Orchester, hervorzuheben ist auch das atemberaubende, eindringlich intensive Spiel des Sängers. Die Regiearbeit des polnischen Film- und Musik-Theaterregisseurs Krzysztof Warlikowski, gewohnt zwischen Symbolik und Realismus changierend, setzt dieses Mal so gar nicht auf Überfrachtung, sondern lässt auf der großen Bühne ein exaktes, feinnerviges Kammerspiel ablaufen, wodurch die Verunsicherung, die Fürst Myschkin mit seiner friedfertigen Art wie Aura bei seiner Umgebung bewirkt, noch stärker und kontrastreicher zum Ausdruck kommt. Erstaunlich, wie es dieser Regisseur schafft, in Zeiten zunehmenden Unsinnswustes, was Opernregie betrifft, mit seinen kühnen Arbeiten doch immer ganz am Werk, am Text, an der Musik zu bleiben.

Und eine herausragende Premiere gab’s auch im Oktober an der Wiener Staatsoper, wo FIN DE PARTIE von György Kurtag gezeigt wurde. Die Umsetzung der höchst spannenden, mit ständigen, unzähligen Taktwechseln komplizierte Partitur gelingt Simone Young einfach hervorragend: Neben ausgezeichneten, spielfreudigen SängerInnen mit vokalen Glanzleistungen auf der Bühne – vor allem von Philippe Sly, daneben sind noch Georg Nigl, Charles Workman und Hilary Summers aufgeboten – sitzt im Graben ein höchst motiviertes, in unzähligen Farben funkelndes Orchester der Wiener Staatsoper. Derart interpretiert, kann diese kleinzeilige Musik auch sinnlich schillern, kommt deren enorme, einem pointilistischen Impressionismus gleichkommende Farbpalette, ungemein zur Geltung; die Dirigentin erreicht das mit ihren typisch fließenden, mitunter groß ausufernden Dirigierbewegungen. Die Schwierigkeit der Regie besteht in erster Linie darin, ein Kammerspiel auf der großen Bühne der Wiener Staatsoper zu zeigen, was Herbert Fritsch in nahezu grandioser Manier gelingt, entwickelt er doch in einem kalt ausgeleuchteten Endzeitbunker eine detailreiche, nahezu perfekt sublime, psychologisch höchst fundierte Personenregie, wodurch die Situation der Ausweglosigkeit in diesem Stück allgegenwärtig ist. Am Ende löst sich sogar der Bunker auf – im Sinne eines allumfassenden Endes nicht nur der Personen, sondern auch von Raum und Zeit? Fritsch ist eine herausragende Regiearbeit gelungen, der akribische Proben zu deren Umsetzung vorangegangen sein müssen.

  • Konzert

2024 feierte die Musikwelt den 200. Geburtstags eines der wohl größten Symphonikers überhaupt – ANTON BRUCKNER. Drei Konzerte haben besonderen Eindruck hinterlassen, die alle drei veritablen „Bruckner-Hochämtern“ gleichgekommen sind.

Zubin Mehta lässt im Konzert der Wiener Philharmoniker im März im Großen Saal des Wiener Konzerthauses die Erfahrung seines ganzen langen Dirigentenlebens in die Interpretation der Symphonie Nr. 7 E-Dur WAB 107 einfließen, wenn er ruhig, mit größtmöglicher Übersicht und höchster dirigentischer Souveränität das Werk ohne Partitur gestaltet. Die von Mehta gigantisch aufgebauten Spannungsbögen reißen über die ganze viersätzige Architektur jedoch nicht ab und werden, imposant beeindruckend, bis zum Schluss gehalten. Zubin Mehta, immer einer der ausgewiesenen Dirigentenvirtuosen, gewiss in jungen Jahren auch dem Stardirigenten-Jetset verhaftet, ist im Alter zu einem echten, tiefschürfenden Interpreten allererster Güte gereift. Man könnte aus dieser herrlichen Aufführung von Bruckners wohl beliebtester Symphonie viele Details herausgreifen, vielleicht die wunderbar kontemplative, spannungserfüllte Ruhe im Adagio, von Bruckner zu Ehren Richard Wagners komponiert.  Zum Höhepunkt geraten aber jeweils die Coda des ersten und vierten Satzes, wo Mehta das Tremolo der Streicher so ekstatisch daherkommen lässt, als wolle er die überwältigten Hörer einfach nur in den Bruckner-Himmel führen.

Als „Schöpfung eines Giganten“ bezeichnet Hugo Wolf die Symphonie Nr. 8 c-moll WAB 108 Symphonie, für Sergiu Celibidache stellt sie den „Gipfelpunkt der Symphonik“ dar – und machen Riccardo Muti und die Wiener Philharmoniker in ihrem Orchesterkonzert im Großen Festspielhaus bei den Salzburger Festspielen Mitte August diesen Attributen alle Ehre, indem sie das Werk in vollendeter Klangschönheit leuchten und erstrahlen lassen. Der ungemein vital wirkende Dirigent scheint jedes Detail des Riesenwerkes herzauszuarbeiten, auszukosten und das Orchester folgt ihm mit einer Hingabe, wie man sie nur in seltenen philharmonischen Feierstunden erleben darf. Diesen schimmernden Streichersatz, dieses runde Blech wird, wer es erlebt hat, nicht so schnell vergessen. Natürlich begeistern die dramatischen, ausladenden Höhepunkte, noch mehr setzt Muti aber auf die verhaltenen leisen Stellen. Die riesigen Bögen, die er aufbaut, zerbersten fast, verlieren aber nie an Spannung, nur ein so unglaublicher Dirigent wie Muti kann Derartiges bewerkstelligen, wobei er auch von Beginn an auf höchste Transparenz setzt und diese bis zum Ende durchzieht. Muti geht mit dieser Interpretation dem Mysterium der Symphonie im Spätherbst seines Dirigentenlebens förmlich auf den Grund.

Mit dem Altomonte Orchester geht es Rèmy Ballot bei den Brucknertagen Ende August in der Stiftsbasilika St. Florian bei der Wiedergabe der dreisätzigen Symphonie Nr. 9 d-moll WAB 109 vor allem um die weiten Strukturen dieser beinahe schon überirdischen Musik. Die harmonische Instabilität dieses Werkes im Grenzbereich zu atonalen bzw. total-chromatischen Formen setzt er über den Maßen gelungen um. Bei großem, dennoch schwerelosem Klang, perfekt auf die Akustik der Stiftsbasilika abgestimmt und austariert, vermeidet er zwar weitgehend das aufschreiend Schrille, was diese meisterhafte Partitur ebenso in sich birgt, dafür erlebt man episch breite, weite, nie nachlassende, monumentale Spannungsbögen im Rahmen einer durch und durch überlegten Interpretation. Im Hinblick auf diese intellektuelle Gestaltung im Zeichen einer stets auf Akustik und Raum konzentrierten musikalischen Phänomenologie erscheint es überzeugend, gänzlichen Abstand von straffem Orchesterspiel zu nehmen.

Liedgestaltung aus anderen Sphären ist beim LIEDERABEND von Christian Gerhaher und Gerold Huber Ende Juli im Haus für Mozart im Rahmen der Salzburger Festspiele mit Liedergruppen von Robert Schumann zu erleben. Das Miteinander von Sänger und Pianist hat eine seltene Perfektion erreicht, was Liedgestaltung und exzellente Ausgewogenheit im Hinblick auf die Gewichtung von Musik und Text betrifft. Textverständlichkeit, Artikulation, Diktion, Intonation, Phrasierung von Gerhaher sind einfach nur vorbildlich; seine perfekt geführte wie perfekt im Fokus sitzende, sinnlich vibrierende Stimme von kommt, wie es dem Ausdruck des jeweiligen Liedes entspricht, daher – sanft und weich, phonetisch gewaltig, deklamatorisch, kernig, grell oder fein verschattet. Und Huber am Flügel verfügt über subtilste Anschlagsnuancen, die Seinesgleichen suchen.

Kurz vor Weihnachten stand im Großen Saal des Wiener Musikvereins das leider selten aufgeführte dramatische Oratorium JEANNE D’ARC AU BUCHER von Arthur Honegger auf dem Programm. Sowohl das sehr gut aufgestellte HR-Sinfonieorchester Frankfurt als auch die Chöre – der Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien und die Wiener Chormädchen – verwirklichen die hohe musikalische Bandbreite dieses Werkes unter dem stilvollen, souveränen, expressiven Dirigat von Alain Altinoglu gleichsam famos wie furios. Textorientiert und spannungsgeladen dirigiert, kompakt wie aus einem Guss durchgezogen, entfaltet das vielschichte, packende Werk seine volle, zwingende Wirkung. Dass der Abend zum Ereignis wird, liegt neben Altinoglu aber vor allem an der überragenden Oscarpreisträgerin Marion Cotillard als Jeanne d’Arc. Die bewegend beseelte, tränenreiche Gestaltung und der gekonnte sprachliche Vortrag der zwei Gesichter der Protagonistin, einerseits unschuldiges Bauernmädchen, andererseits leidenschaftlich liebende, aufopfernde Kriegsheldin, finden vor allem in der letzten, elften Szene „Johanna in den Flammen“ ihren großartigen Höhepunkt. Herzzerreißend, erschütternd, wie die fulminante Schauspielerin die Sequenz „Stärker als die eisernen Ketten sind die Ketten der Liebe!“ förmlich herausschreit.

Und noch einmal Riccardo Muti, weshalb ihm auch das Beitragsfoto gewidmet ist. Zum 200. Jahrestag der Uraufführung von Beethovens Symphonie Nr. 9 d-moll op. 125 dirigiert er dieses Menschheitswerk im Großen Saal des Wiener Musikvereins – am Pult der Wiener Philharmoniker, gemeinsam mit dem Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien und ausgewählten SolistInnen. Ihresgleichen sucht die durch und durch gewachsene, reife, enorm reiche wie tiefe Interpretation des am 7. Mai 1824 im Kärntnertortheater uraufgeführten Werkes durch einen Dirigenten, der, was Gestaltung und Interpretation betrifft, mittlerweile Sphären von Wilhelm Furtwängler und Herbert von Karajan erreicht hat. Souveränität, Ruhe und Gesanglichkeit: Mit diesen drei Begriffen lässt sich dieses Ereignis BEETHOVEN IX beschreiben. Sämtliche Tempi sind organisch, stehen in wunderbarer Relation zueinander, wirken einfach „richtig“. Mutis großartiges Dirigat ist nicht verhetzt, nicht durchgepeitscht, sondern von innerer Dramatik und Wucht geprägt, Beethovens bebende Tremoli und wachsende Crescendi steigert er bis zum Äußersten, die Spannungsbögen sind von bebender Intensität, ein Wunder der langsame, dritte Satz, wo Muti die Zeit stillstehen lässt. Die Orchestercoda nach Schillers Ode „An die Freude“ geht nahtlos über in nicht enden wollenden Publikumsjubel, der seinen Höhepunkt erreicht, wenn die Wiener Philharmoniker ihren Lieblingsdirigenten allein ans Pult bitten.

Mögen uns 2025 ebensolche Highlights beschieden sein!

Themenschwerpunkte
Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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