Ein Märchen unserer Zeit: CHOWANSCHTSCHINA von Modest Mussorgski

CHOWANSCHTSCHINA - Bühnenbildentwurf (1911)von Konstantin Alexejewitsch Korovin (1861-1939)

Die Geschichte von CHOWANSCHTSCHINA ist faszinierend und komplex, weil die letzte Oper des 1839 geborenen Modest Petrowitsch Mussorgski bei seinem Tod 1881 unvollendet geblieben ist, hinterließ der Komponist doch nur fragmentarische Skizzen und von den letzten beiden Szenen nicht einmal einen Klavierauszug.

Die erste Aufführungsfassung der gesamten Oper wurde von Mussorgskis Freund Nikolai Rimski-Korsakow 1882 fertiggestellt, wobei Rimski einen Schluss aus seiner eigenen Komposition beisteuerte. Im Jahr 1913 fügte Igor Strawinsky für Sergej Diaghilew und die Pariser Aufführungen im Rahmen der »Ballets Russes« einen neuen Schluss hinzu. 1958 schließlich fertigte Dmitri Schostakowitsch seine Orchestrierung auf der Grundlage einer Ausgabe von Mussorgskis Skizzen durch den Musikgelehrten Pavel Lamm und den Komponisten Boris Asafiev an und fügte einen eigenen Schluss hinzu – diese Version wird heute meistens gewählt, wenn CHOWANSCHTSCHINA gegeben wird.

Dem Komponisten ging es in seiner Oper nicht um eine detailgetreue Nachbildung politischer Ereignisse, sondern darum, in einer Collage aus historischen Dokumenten „das Vergangene im Gegenwärtigen“ darzustellen – eine Art Meditation über die Geschichte mit den Mitteln der Oper. Vermutlich hatte Mussorgski sogar überhaupt eine Trilogie über die Geschichte Russlands vom 16. bis zum 18. Jahrhundert – beginnend mit BORIS GODUNOW, fortgeführt mit CHOWANSCHTSCHINA, endend mit PUGATSCHOWTSCHINA, einer Oper über den Bauern- und Kosakenaufstand – geplant.

In den Jahren zwischen 1682 und 1689 wird Moskau zum Schauplatz chaotischer politischer Zustände, in deren Ausgang der energische Zarewitsch Peter (später als Zar Peter I. „der Große” genannt) die Macht übernimmt. In CHOWANSCHTSCHINAam besten mit „Chowansky-Schweinerei“ übersetzt – stehen sich drei politisch-soziale Strömungen gegenüber, die brutale Kämpfe um den Thron austragen: die von Peter dem Großen inspirierte, in Richtung Westen orientierte Strömung, die an einer Öffnung nach Europa interessiert ist und die in der Oper durch den aufgeklärten und gebildeten Fürsten Golizyn verkörpert wird; der Konservatismus der Bojaren, die an den alten Traditionen festhalten und ihre Macht sichern wollen, vertreten durch Fürst Ivan Chowansky und seine gefürchtete Strelitzen-Armee; und schließlich die Altgläubigen („Raskolniki“), eine sektiererische und konservative religiöse Gruppierung, die als einflussreiche gesellschaftliche Kraft unter ihrem Anführer Dosifej ein in sich geschlossenes und vor der europäischen Dekadenz geschütztes Russland propagiert. Der eigentliche Protagonist der Oper aber ist das Volk.

Das Werk erscheint gerade in unseren Tagen ganz besonders aktuell. In Mussorgskis gewaltigem Geschichtspanorama geht es im Grunde um Russland in allen Facetten. Eine ebenso berührende wie beängstigende Darstellung permanenter Machtkämpfe zwischen den Eliten und ein in bitterer Armut, Unterdrückung durch Obrigkeit, Kirche und Aberglauben dahinvegetierendes duldsames Volk. Ein faszinierendes Zeitdokument der vermeintlich „russischen Seele“.

Das musikalisch-künstlerische Schwergewicht von CHOWANSCHTSCHINA ruht auf zahlreichen herrlichen Chorszenen, weshalb man tatsächlich von einem „Volksdrama“ sprechen kann, wobei das Volk als allerdings als passiver Held erscheint, der leidend für die Sünden der Herrschenden zu zahlen hat. Komplexe von starker dramatischer Geschlossenheit sind vor allem der zweite Akt mit der fantastischen Prophezeiung Marfas sowie das erste Bild des vierten Aktes, in dem Fürst Ivan Chowansky zu tragischer Größe wächst.

Das Werk, 1886 uraufgeführt, bei dessen brutalen Kämpfen und skrupellosen Machtspielen man heute den Eindruck hat, dass sich die Geschichte nicht nur in Russland, sondern auch in vielen Teilen der Welt wiederholt, steht im ersten Quartal 2025 gleich zweimal am Spielplan renommierter Bühnen: Ende März im Grand Thèatre de Genève und Mitte April bei den Salzburger Osterfestspielen. Berichte über beide Neuproduktionen erscheinen zeitnah auf diesem Blog.

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Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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