Einem unterschätzten Großen zum 95. Geburtstag

Alexis Weissenberg (1929 - 2012) © Warner Classics USA

Kritiker haben ihn als „kühl“, „intellektuell“ und „kalkulierend“ bezeichnet, dabei waren sein unglaubliches technisches Können, die bestechende Präzision und reine Klarheit seines Klavierspiels ein Faszinosum besonderer Art. Die Rede ist vom 1929 in Sofia geborenen und am 8. Januar 2012 in Lugano verstorbenen bulgarisch-jüdischen Pianisten Alexis Weissenberg, der am 26. Juli 2024 seinen 95. Geburtstag gefeiert hätte.

„Zwei Aspekte meiner Persönlichkeit bestimmen alles, was ich in der Musik tue, und sie sind völlig konträr: Meine Seele ist logisch, mein Körper jedoch temperamentvoll. Gefühlsmäßig bin ich Slawe: ich durchlebe Höhen und Tiefen, ich bin launisch und kann sehr sentimental und sehnsüchtig sein. Mit dieser Sehnsucht meine ich eine abenteuerliche Reise in Körper und Kopf, greifbarer als nur eine zwischenmenschliche Beziehung oder ein Liebeserlebnis. Die Ursache ist das Land, das man vermisst – das ganze Klima und die Topographie –, oder eine andere Person, die Aura eines anderen Menschen, der etwas für einen getan hat und der einem im Leben einfach fehlt. Sehnsucht kann für einen Künstler gefährlich werden, weil sie leicht außer Kontrolle geraten kann. Sie kann einen zerreißen.“ – sagt der Pianist über sich selbst.

Man kann Weissenberg als besonders empfindsamen Virtuosen bezeichnen, weit entfernt von einem Technokraten am Klavier. Ab Mitte der 1960er Jahre hatte er eine überaus erfolgreiche internationale Karriere als Pianist zu verzeichnen; Dirigenten, die mit ihm gearbeitet haben, waren u. a. Georges Pretre, Leonard Bernstein, Seiji Ozawa, Lorin Maazel, Riccardo Muti, Carlo Maria Giulini und vor allem Herbert von Karajan, der Weissenberg außerordentlich schätzte und mit ihm sämtliche Klavierkonzerte von Beethoven sowie das Klavierkonzert Nr. 2 von Rachmaninoff und das Klavierkonzert Nr. 1 von Tschaikowsky eingespielt hat.

„Wenn mir je einer folgen kann, dann ist es Alexis Weissenberg.“ – sagte einmal Vladimir Horowitz, nachdem er Weissenberg das Klavierkonzert Nr. 3 von Rachmaninoff spielen gehört hatte, mithin ein Werk, das er selbst besonders schätzte und wovon seine Interpretation als beispielhaft gilt. Dieses Konzert hat Weissenberg dreimal auf Platte eingespielt, mit Bernstein, Pretre und Ozawa.

„Seine Interpretation der „Bilder einer Ausstellung“ von Mussorgskij ist an Klangpracht, scharfen rhythmischen Gegensätzen und einer schier unfassbaren Steigerung im ‚Großen Tor von Kiew‘ nur von Vladimir Horowitz und Svjatoslav Richter erreicht worden.“, bemerkte Glenn Gould.

Die meisten seiner Aufnahmen sind bedauerlicherweise aus den internationalen Katalogen gestrichen, was ein Zug unserer Zeit zu sein scheint. Glücklicherweise noch immer erhältlich sind Weissenbergs Wiedergabe aller Préludes von Rachmaninoff, die nach wie vor Kultcharakter besitzen.  

Zu empfehlen – wer gerne antiquarisch stöbert, wird aufs Reichste beschenkt werden – sind auch seine Einspielungen des zweiten Klavierkonzertes von Bartok unter Ormandy und von Prokofieffs drittem Klavierkonzert unter Ozawa. Wie Horowitz war er ein herausragender Schumann-Interpret, was seine Aufnahmen der Fantasie C-Dur op. 17, der Kinderszenen op. 15, der Davidsbündlertänze op. 6 eindrucksvoll belegen.

Fähig war er auch, sich mit seiner pianistischen Meisterschaft in die Welt von Bach und Chopin einzufühlen: Von Ersterem gibt es glasklare Einspielungen der Goldberg-Variationen, der Partitas, der Chromatischen Fantasie und Fuge und des Italienischen Konzertes; von Zweiterem überschäumende Aufnahmen der beiden Klavierkonzerte, von traumverlorenen Nocturnes, seelenvollen Mazurkas, hinreißenden Walzern, der zweiten und dritten Klaviersonate sowie den Scherzi.

Ein pianistisches Feuerwerk und für mich unübertroffen ist seine Einspielung von Strawinskys „Trois mouvements du Petrouchka“; Nicolai Gedda hat er am Flügel bei Rachmaninoffs Mélodies begleitet; Begleiter war er auch von Margaret Price und Hermann Prey.

Leidenschaftlich kontrolliert geraten sind seine Aufnahmen von Beethovens „Mondscheinsonate“, „Pathetique“ und „Appassionata“.

Nachdem er sich in seinen späteren Lebensjahren aus Krankheitsgründen immer mehr und mehr aus dem Konzertbetrieb zurückgezogen hatte, war er noch als Lehrer in Meisterklassen tätig, wobei er sich auf die individuelle Begabung der Studierenden einstellt: Diese sollten keine vorgefasste Interpretationsmeinung vertreten, da es eine solche für ihn nicht gab. Besonders gefördert wurde von ihm auch die junge Anne-Sophie Mutter; mit ihr gemeinsam hat er auch die drei Violinsonaten von Brahms sowie Francks Sonate in A-Dur eingespielt.

Herausragende Aufnahmen stellen auch Liszts Klaviersonate h-moll, die beiden Sonaten von Rachmaninoff sowie Ravels Valses nobles et sentimentales und dessen Klavierkonzert, das die Luft des südwestfranzösischen Atlantiks, der Heimat des Komponisten, atmet.

Als Geheimtipp möchte ich noch seine beiden Einspielungen von Brahms‘ des ersten Klavierkonzertes von Brahms nennen – mit Giulini, mit dem er auch Mozarts Klavierkonzerte Nr. 9 und 21 aufgenommen hat, und Riccardo Muti als Dirigenten.

Dieser großartige Pianist mit immens breitem Repertoire, dessen oft als kalt missverstandene Klavierästhetik berückende Wirkungen zeitigen konnte, möge weiterhin in Erinnerung bleiben.

Themenschwerpunkte
Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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