Pierre Boulez oder die Klarheit in der Musik: Gedanken zum 100. Geburtstag

Am 26. März 2025 hätte er seinen 100. Geburtstag gefeiert - der französische Dirigent und Komponist Pierre Boulez (1925 - 2016)

Seine Forderung Ende der 1960er-Jahre, „sämtliche Opernhäuser in die Luft zu sprengen“, war niemals wörtlich gemeint, wie er später korrigierte: Der am 26. März 1925 in Montbrison im Dèpartement Loire in der Region Auvergne-Rhone-Alpes geborene und am 5. Januar 2016 in seiner Wahlheimat Baden-Baden gestorbene Pierre Boulez wollte in Wahrheit damit auf die streng konservativen, überkommenen Traditionen im Musiktheater dieser Zeit hinweisen. Dem Wunsch seines Vaters, Mathematik und Technik zu studieren, hatte er zunächst nachgegeben, um sich dann rasch der Musik zuzuwenden, die er, Schüler von Olivier Messiaen, als ein Hauptvertreter der musikalischen Avantgarde mitrevolutioniert und erneuert hat. Aus seiner Liebe zur Mathematik fruchtete die „serielle Musik“ – eine bahnbrechende Errungenschaft der Kompositionstechnik im 20. Jahrhundert. Ungemein bereichert hat er die Musik vor allem auch als Dirigent mit seinen absolut zeitlosen Interpretationen von Werken anderer Komponisten.

Wie als Dirigent war er als Komponist Perfektionist in Reinkultur und ist dies Zeit seines Lebens geblieben: Intellekt und Emotion sollten gleichsam aus seiner Musik sprechen, Verstand und Schönheit sich in seinem Schaffen nicht ausschließen. Immer war er dabei ein Mann der Zukunft mit profunder Basis, der in historischen Begriffen dachte, später aber neben elektronischer Verstärkung auch den Computer in seiner Musik verwendete.

Der Titel einer von ihm 1954 ins Leben gerufenen Konzertreihe in Paris war Domain Musical, diese hatte bis 1973 Bestand. 1976 hat er das Ensemble intercontemporain (EIC) gegründet, das unter seiner Leitung zu einem weltweit richtungsgebenden Ensemble für zeitgenössische, hochartifizielle Musik avancierte. Maßgeblich beteiligt war er auch 1976 bei der Gründung des im Pariser Centre Pompidou beheimateten Institut de recherche et coordination acoustique/musique (IRCAM), einem Institut für Forschung in allen Bereichen, die Musik und Akustik betreffen. Leidenschaft und Hingabe bestimmten noch sein Wirken in Luzern bei Kursen für junge DirigentInnen in seinen späten Jahren.

Als Dirigent war er, der zeitlebens auf den Taktstock verzichtete, bekannt für seine knappe Zeichengebung allein mit den Händen. Er verfügte über ein phänomenales Gehör, konnte jede Partitur, was Musik, Orchester und Orchestrierung betrifft, auseinandernehmen, quasi sezieren, und gab höchst präzise Anweisungen zu Dynamik und Agogik der Musik. Dirigiert hat er schnell, schnörkellos, zwingend. Vor allem als Interpret von Musik des 20. Jahrhunderts hat er Maßstäbe gesetzt: beeindruckt hat er dabei durch klare, analytische, nie dem Sentiment verfallende, unprätentiöse, betont zügige, transparente, Wiedergaben nicht nur eigener und anderer avantgardistischer Werke von Luciano Berio, Elliott Carter, Olivier Messiaen und Edgard Varese, sondern vor allem von den „Großen Fünf der zeitgenössischen Musik“ (Bela Bartok, Igor Strawinsky, Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton Webern), sowie von Hector Berlioz, Claude Debussy und Maurice Ravel, in späteren Jahren auch von Gustav Mahler, bei dem ihm vor allem die reiche Komplexität seiner Musik interessierte.

Interpretationsgeschichte hat er, für viele überraschend, auch in Bayreuth geschrieben – von 1976 bis 1980 als Dirigent des gemeinsam mit Regisseur Patrice Chéreau erarbeiteten „Jahrhundertrings“ und noch einmal, 2004 und 2005, nunmehr bereits achtzig Lebensjahre zählend, als wunderbar luzider, musikalischer Gestalter der spektakulären „Parsifal“-Inszenierung von Christoph Schlingensief, um sehr aktiv an der Erneuerung der Bayreuther Festspiele mitzuwirken. Bereits 38 Jahre zuvor, im Sommer 1966, war er im verdeckten Bayreuther Graben kurzfristig für den verstorbenen Hans Knappertsbusch als Dirigent des Bühnenweihfestspiels eingesprungen, das er am geweihten Orte dann auch noch 1967, 1968 und 1970 dirigierte, aus 1970 existiert davon ein Live-Mitschnitt bei der Deutschen Grammophon Gesellschaft (DGG). Legendär war sein Zeitgefühl, waren doch seine Tempi 2005 beinahe exakt dieselben wie 1966. Nicht auf dem „Grünen Hügel“, aber bei einem Gastspiel der Bayreuther Festspiele in Osaka hat er 1967 noch „Tristan und Isolde“, mit dem Strich im zweiten Akt, dirigiert. Auch bei den langen Werken von Richard Wagner vermied er jegliches Schleppen, verlor sich nicht und verweilte nie in noch so schönen Details.

Ebenfalls mit Patrice Chereau brachte er in Paris 1977 Alban Bergs „Lulu“ erstmals mit dem von Friedrich Cerha vervollständigten dritten Akt auf die Bühne und ließ nacherleben, wie sinnlich Bergs Musik bei aller clarté doch klingen kann. Wieder mit Chereau hat er für das Theater an der Wien in Kooperation mit Aix en Provence „Z mrtveho domu“ von Leos Janàcek klirrend gefrierend interpretiert und dies selbstverständlich mit dem vom Komponisten vorgesehen, desolaten Originalschluss. Peter Stein stand ihm kongenial bei Claude Debussys „Pelleas et Melisande“ in Cardiff sowie bei Arnold Schönbergs „Moses und Aron“ in Amsterdam und Salzburg zur Seite. Obwohl er mit diesen Theatermagiern bei ausgewiesenen Meisterwerken der Oper zusammengearbeitet hat, blieb ihm sein Wunsch, seinen Traum vom Musiktheater mit Samuel Beckett, Edward Bond, Jean Genet, Bernard Marie Koltès oder Heiner Müller zu verwirklichen, verwehrt.

In den 1990er-Jahren begann in Salzburg seine intensive Verbindung mit den Wiener Philharmonikern, die er zwischen August 1992 und Januar 2012 in 88 Konzerten dirigierte. Es war eine späte, musikalisch ungemein wertvolle Liebe, er und das Orchester standen in regem gegenseitigem Austausch. Obwohl seine definitiven Lieblinge die oben erwähnten, modernen Komponisten waren, trug das ständige Geben und Nehmen zwischen ihm und den „Wienern“ dazu bei, dass der Maestro auch noch den Weg zu den von ihm zunächst abgelehnten Anton Bruckner fand: 1996 ließ er sich überreden, in St. Florian dessen VIII. Symphonie zu dirigieren: der betreffend Bruckner Unerfahrene verließ sich dabei auf ein Orchester mehr als sonst üblich und gab im Adagio sogar seine gewohnte Zurückhaltung des neutralen Gesichtsausdruckes beim Dirigieren auf, um kurz Emotionen zu zeigen.

Sein Freund Daniel Barenboim holte ihn Anfang dieses Jahrhunderts noch ans Pult der Berliner Staatskapelle, wo sich beide Dirigenten einen bereits legendären Mahler-Zyklus teilten und auch im Wiener Musikverein zur Aufführung brachten. In der Berliner Barenboim-Said Akademie ist als Hommage an sein Engagement für Neugier und Bildung ein Leben lang der Konzertsaal nach Pierre Boulez benannt.

Neben den beiden erwähnten Orchestern stand er als Dirigent zudem oft wie gerne am Pult der Weltorchester Berliner Philharmoniker, Chicago Symphony Orchestra, Cleveland Orchestra und London Symphony Orchestra, von 1971 bis 1977 war er Chef beim New York Philharmonic Orchestra.

Neben seinem Wirken als Musiker war er privat ein Vielleser, Liebhaber Malerei und neugieriger Theaterbesucher. Vom Wesen her kann man ihn als absolut korrekten Gentleman beschreiben.

Auf folgende Kompositionen aus seinem Oeuvre soll noch eingegangen werden –  

2e sonate pour piano (1948), wo Aggregate und Cluster traditionelle Harmonien ersetzen, ein atonales, rhythmisch progressives Meisterwerk;

Le marteau sans maitre (1955) mit seinem im Raum schwebenden Klangkaleidoskop, verstärkt durch surrealistische Gedichte von Renè Char: unbequeme, aber wunderbare Musik;

Pli selon pli. Porträt de Mallarmè (1957), für Sopran und Orchester, ein Meilenstein der neueren Musikgeschichte, weil ein Erneuerer der französischen Lyrik auf einen Erneuerer der Musik trifft, eines seiner längsten Werke;

Livres pour cordes (1968/1988) für Streichorchester, ein Werk höchster Komplexität, Schönheit und Tiefe;

… explosante-fixe… (1971), in Gedenken an Strawinsky konzipiert, ein sehr stilles, sehr verhaltenes Stück, das mit oder ohne Elektronik aufführbar ist;

Rituel: in memoriam Bruno Maderna (1975), eine seiner freiesten Partituren, sehr minimalistisch mit ihrer begrenzten Harmoniepalette und pulsierenden Rhythmen;

Repòns (1976), geschrieben für Paul Sacher, für sechs Schlagzeugsolisten, großes Kammerorchester und Live-Elektronik, eine plurifunktionelle Wechselrede zwischen unverfremdeten und in Echtzeit verfremdeten Instrumentalklang;

Notations (seit 1978), Orchesterfassungen für fünf Klavierstücke aus seiner seriellen Phase, anspruchsvolle Töne voll Gefühl und  Sinnlichkeit; und

Sur Incises (1996/1998), Paul Sacher zum 90. Geburtstag gewidmet, basierend auf Incises, für drei Klaviere, drei Harfen und drei Schlagzeugstimmen, wo sich Episoden lyrischer Verträumtheit in schierer Farbenpracht mit Ausbrüchen pulsierender Intensität abwechseln.

Die DGG hat soeben wahre Schätze an Tonträgern, die CD-Boxen „The conductor“ und „The composer“, veröffentlicht. Seine Aufnahmen hat er selbst fast nie gehört, gefragt nach seiner Lieblingsaufnahme, hat er sich für die VI. Symphonie von Gustav Mahler mit den Wiener Philharmonikern entschieden.

Sein Charakter stehe immer im Wechselspiel zwischen Utopismus und Pragmatismus, wie er sich selbst charakterisierte. Unbestritten war er einer der ganz Großen in der Musik, für den clartè in der Interpretation oberste Priorität besaß – neben dem unerschütterlichen Grundsatz, dass jede Aufführung immer durch die gedruckte Partitur bestimmt sein muss. Gewiss war der mehrsprachige, betont Intellektuelle auch hitzköpfiger Dogmatiker wie einflussreicher Visionär – und wahrscheinlich ein viel emotionalerer Mensch, als er uns glauben ließ. Am 26. März 2025 hätte Pierre Boulez seinen 100. Geburtstag gefeiert.

Themenschwerpunkte
Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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