Als man stimmlich noch uneingeschränkt aus dem Vollen schöpfen konnte: Rudolf Kempes Bayreuther „1961er-Ring“

In ihrer Reihe „Bayreuther Festspiele live“ hat das Label ORFEO vor ein paar Jahren den „Ring des Nibelungen“ aus dem Jahre 1961 veröffentlicht (ORFEO, C 928613 Y). Es handelt sich dabei um die remasterten Bänder des Bayerischen Rundfunks in Mono-Technik. Aufnahmetechnisch ist die Einspielung sehr gut, bei den künstlerischen Fragen bleiben keine Wünsche offen. Rudolf Kempe stand nach 1960 zum zweiten Mal beim „Ring“ im Graben im Bayreuther Festspielhaus und lässt ein Dirigat vom Allerfeinsten vernehmen: Forsch, transparent, aber auch leidenschaftlich, in manchen Passagen fast zart und wo es sein muss, fehlt auch der ganz große Wagner-Klang nicht. Was die Sängerinnen und Sänger betrifft, konnte man damals noch in allen Partien aus dem Vollen schöpfen, obwohl manche Partien schon damals, zum Glück noch nachvollziehbar zwingend, aufgeteilt wurden. Wotan in „Rheingold“ und „Walküre“ war der Amerikaner Jerome Hines: kein Stürmebezwinger, sondern von Anfang an ein in sich Gekehrter, warmer Walvater mit phasenweise balsamischem Ton, der aber auch über immense Ausbrüche verfügte. Den Abschied von seiner Lieblingstochter hört man selten so bewegend. Einen durchdringenden, an seiner Stellung als Halbgott verzweifelnden Loge gab Gerhard Stolze, Otakar Kraus einen mächtigen Alberich. Heldisch leidenschaftlich der junge Fritz Uhl als Siegmund, kongenial ihm zur Seite die jubelnde Sieglinde der Regine Crespin. Ein männlich auftrumpfender Wanderer in den besten Jahren, der schmerzlich vermittelt, dass es Wotan schwer fällt abzutreten, war der junge, leider sehr früh verstorbene Kanadier James Milligan. Beide Siegfriede sang Hans Hopf stimmschön mit heldischer Attitüde und beinahe belkantesk italienisch, Gottlob Frick war ein abgründig rabenschwarzer Hagen ebenso wie Hunding. Die Wunschmaid in der „Walküre“ war noch einmal, noch immer über alle stimmlichen Voraussetzungen verfügend, Astrid Varnay. Über allem aber stehen die beiden schlicht phänomenalen Rollenporträts von Birgit Nilsson als Brünnhilde in „Siegfried“ und „Götterdämmerung“: helle, leuchtende, durchdringende, strahlende, sirenenartige Töne, ein phänomenaler Atem, mit festem, unerschütterlichem Stahl in der großen Stimme, also stimmliche Qualitäten ohne jegliche Einschränkungen, die einen Eindruck davon vermitteln, wie sich Wagner wirklich eine „Hochdramatische“ vorgestellt haben mag. Beim Erwachen Brünnhildes im „Siegfried“ vermeint man einen gleißenden Sonnenaufgang zu hören, wie sie mit schier unerschöpflichen Reserven bei Brünnhildes Schlussgesang in „Götterdämmerung“ durch das Orchester schneidet, jagt kalte Schauer über den Rücken. Hatte sie 1960, also im Jahr zuvor, in diesen Rollen in Bayreuth debütiert, konnte die große Schwedin in keinem ihrer Auftritte in diesen Rollen danach diese Leistung von 1961 je wieder übertreffen. Und wenn man ein wenig nachrecherchiert, hatten sich die Kritiker bereits damals über die Regie von Wolfgang Wagner echauffiert: im Hinblick auf die Szenerie also gestern wie heute nichts Neues in Bayreuth …

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Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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