Nach Wolfram von Eschenbach ist der Gral kein Kelch, sondern ein lebensspendender Stein und bekanntlich sind einige Handlungselemente von Richard Wagners „Parsifal“ dem Versroman „Parzival“ dieses mittelhochdeutschen Dichters entlehnt, weshalb das Schlussbild der aktuellen Bayreuther Inszenierung des Werkes ganz nahe an dieser Vorlage ist, wenn Parsifal einen bläulich-schwarzen Stein am Boden zertrümmert. Auch ist die Gralsgesellschaft keineswegs eine rein männliche, frauenfeindliche, gibt es nämlich im Epos Wolframs, woraus Wagner die äußeren Elemente seines Musikdramas entlehnte, sogar eine Gralsträgerin – aus den Tagebüchern Cosima Wagners geht hervor, dass der Meister bei der Bayreuther Uraufführung 1882 ebenfalls eine solche Gestalt auf die Bühne brachte – und dies wiederum die Gurnemanz zugedachte Frau, die in der aktuellen Neuinszenierung gegenwärtig ist, erklärt.
„Kinder! Macht Neues!“ hatte einst schon der Bayreuther Meister selbst postuliert und es scheint, als beherzigen die Bayreuther Festspiele mit ihrer aktuellen Produktion vom „Bühnenweihfestspiele“ diese Forderung auf ganz besondere Weise, ist doch die Regiearbeit einerseits als ganz normale Inszenierung zu sehen, andererseits bedient sich Regisseur Jay Scheib, Professor am Massachusetts Institute of Technology, wo er das Institut für Theaterkunst leitet, Augmented Reality – Brillen, die dem Publikum von bestimmten Plätzen aus ein Mehr an Szene liefern sollen. Die Frage, ob damit nicht zu sehr von der musikalischen wie szenischen Umsetzung des Stückes abgelenkt wird, ob Technik das Erlebnis Oper größer zu machen vermag, stellt sich allerdings hartnäckig, weshalb Ihr Rezensent es auch in diesem Jahr vorgezogen hat, die Aufführung am 7. August 2024 ohne AR-Brille zu erleben.
Im Hinblick auf Scheibs AR-Konzept bekommt man großflächige Videos zu sehen: Beispielsweise im ersten Aufzug – ganz nahe am Stück – eine offene Wunde, die behandelt wird, jedoch nicht aufhören will zu bluten; im zweiten Aufzug wird die Verführungsszene zwischen Kundry und Parsifal auf Video projiziert. Joshua Higgason gelingen eindrucksvolle Bilder, das Werk und die Handlung unterstreichend, da wurde gegenüber dem Vorjahr deutlich nachgeschärft. Dasselbe gilt auch für das farbig plastische, bisweilen magische Stimmungen provozierende Licht von Rainer Casper. Auch ohne die AR-Brille wird deutlich, wie stark sich Scheib mit den inneren Zuständen der Charaktere auseinandersetzt – Erlebtes und Geträumtes von Parsifal, Kundry und Gurnemanz. Der Fokus ist dabei auf Kundry gerichtet – vor allem den Versuchen und dem Unvermögen zum Kern von Wagners wohl geheimnisvollster Frauengestalt durchzudringen und diese zu erfassen. Auf höchst einfache Weise erzählt Scheib die Geschichte, verzichtet glücklicherweise zur Gänze auf heute mittlerweile übliche Inszenierungselemente wie Rahmenhandlungen, Metaebenen und Tanzeinlagen. Die Bewegungen entspringen ganz der Musik, stehen ganz im Einklang mit ihr; Personenführung wie Personenregie sind zwingend einfach geraten. Für die Bühne ist Mimi Lien verantwortlich, Meentje Nielsen hat die – bedauerlicherweise ästhetisch fragwürdigen – Kostüme entworfen. Im ersten Akt dominiert eine angenehme Abstraktion: Kahl ist diese Gralswelt, mit einem Monolithen als dominierendes Element; in der Gralsburg gibt es noch einen an eine Dornenkrone erinnernden Lichterkranz. Ebenso reduziert ist Klingsors Burg im zweiten Akt, im grellbunten Zaubergarten dominiert dann die Barbie-Farbe rosa – wie modisch ist das nur; die Blumenmädchen sind veritable 1968er-Girlies. Im dritten Akt eine desolate Landschaft, beherrscht von einer Bergbaumaschine, wie sie zum Erzabbau verwendet wird, mit einem Teich in der Mitte. Aus diesen Erzen wird beispielsweise Kobalt und Lithium gewonnen, die zur Energiegewinnung eingesetzt werden – „Gral und Speer erzeugen auf ihre Art und Weise ja auch Energie …“, so Scheib. Und nachdem Parsifal den Stein zertrümmert hat, zieht er Kundry mit in den Teich: Zurück zur Natur? Misstraut dem Technologiewahnsinn auf dieser Erde? Dieser mit Musik und Text im Einklang stehende Inszenierungsansatz wird von Scheib und seinem Team konsequent im Rahmen der „Werkstatt Bayreuth“ weiterverfolgt und weiterentwickelt.
Was die musikalische Seite der Neuproduktion anbelangt, ist reinstes Wagner-Glück zu vernehmen. Im verdeckten Bayreuther Graben beherrscht Pablo Heras-Casado dessen akustische Tücken. Flüssig kommt der erste Aufzug daher, im zweiten Aufzug setzt der Dirigent auf eine immens starke Dramatik, um sich im dritten Akt für viel Zeit bei nicht nachlassender Spannung und herbstlich sanfte, warme Töne sowie ein mildes Ausfließen zu entscheiden. Dieses Dirigat, das dem Werk auch einen Anflug von Weihe, die jedoch niemals zum Selbstzweck wird, beimischt, bewegt und beeindruckt zugleich, das Festspielorchester zeigt sich von seiner besten Seite. Mit dem spanischen Dirigenten wurde nach den großen Dirigaten von Pierre Boulez und Hartmut Haenchen im 21. Jahrhundert nunmehr bereits der dritte Dirigent verpflichtet, der einen eigenen, durch und durch überzeugenden Weg beim „Parsifal“ gefunden hat.
Von Eberhard Friedrich wurde der Festspielchor gewohnt souverän präpariert: Es erklingen mächtig schallende Chöre bei höchster Differenzierung, wie man sie eben nur an diesem Ort hört.
Ausgezeichnet sind auch die Sängerleistungen, obwohl einiges an Aufwand nötig geworden war, dass überhaupt eine Aufführung zu erleben war. Andreas Schager hat die Titelrolle wegen Indisposition absagen müssen, Klaus Florian Vogt wurde kurzfristig eingeflogen, konnte jedoch wegen eines verpassten Anschlussfluges erst ab dem zweiten Akt die Titelrolle gestalten, im ersten ist spontan Tilmann Unger eingesprungen. Der Bayreuther Publikumsliebling Vogt ist trotz der Strapazen an diesem Abend blendend disponiert, eindringlich und differenziert singt er mit unerschöpflich festem, kernig hellem Tenor diesen Parsifal. Als Kundry ist Ekaterina Gubanova aufgeboten und begeistert mit ihrem verführerisch vollem Mezzo-Timbre bei makelloser Stimmführung und wunderbarer Intonation. Für den von Gubanova und Vogt an eindringlicher Intensität kaum zu überbietenden zweiten Akt gibt es vom Publikum bereits danach donnernde Jubelstürme. Einen im klagenden Leid berührenden, aber auch mit kräftigem Bariton, vor allem im dritten Akt stark auftrumpfenden Amfortas gibt Derek Welton. Balsamisch sanft, ungemein nobel, bisweilen sogar etwas verhalten sowie mit imposanter Größe dann im letzten Akt gestaltet Georg Zeppenfeld den Gurnemanz. Beinahe schon etwas zu fein gerät der Klingsor von Jordan Shanahan – eher ein beißend Gequälter, denn dämonischer Zauberer. Rollendeckend solide singen die Blumenmädchen, Gralsritter und Knappen, unauffällig das Altsolo. Auffallend ist die hohe Wortdeutlichkeit aller Agierenden.
Bei gezielter Weiterverfolgung solcher Interpretationswege darf man sich jetzt schon auf die nächste Bayreuther Saison freuen wie höchst gespannt auf das Jubiläumsjahr 2026 sein.