Bruckners Mysterium auf der Spur – Remy Ballot mit der IX. Symphonie bei den Brucknertagen

Blick auf die Orgel in der Stiftsbasilika St. Florian © Thomas Rauchenwald

Sollte die Neunte in drei Sätze gegliedert werden? Hat Bruckner – bewusst oder unbewusst – die Gegensätze auf den Höhepunkt im dritten Satz hin ausgerichtet? Ist das Finale in seinem aktuellen Zustand vollendet? Sind die Kräfte, die im Finale entfaltet werden, dermaßen gewaltig, dass es Bruckner schier unmöglich war, weiterzumachen? … Diese Fragen werden wohl unbeantwortet bleiben.“ Treffender als Remy Ballot kann das Mysterium der IX., dem „lieben Gott“ gewidmeten, Symphonie von Anton Bruckner nicht beschrieben werden, als vom Dirigenten Remy Ballot, dem letzten Schüler Sergiu Celibidaches und großen Bruckner-Dirigenten.

Mit dem Altomonte Orchester St. Florian versucht Ballot nun bereits zum zweiten Mal nach 2015 bei den St. Florianer Brucknertagen dem Mysterium dieses – vollendet unvollendeten – Werkes auf den Grund zu gehen. Dirigent und Orchester widmen die beiden Konzerte am 23. und 24. August 2024 in der Stiftsbasilika dem im Mai dieses Jahres verstorbenen Cellisten und Pädagogen Thomas Wall, Gründer dieses Orchesters und Mitglied der künstlerischen Leitung der St. Florianer Brucknertage.

Beeindruckend von Beginn an, wie Dirigent und Orchester die akustischen Tücken der Basilika – mit ihrem Nachhall von sechs bis zehn Sekunden – beherrschen. Das Grundtempo ist dabei naturgemäß sehr langsam, entsprechend Celibidaches Credo, dass bei langsamem Tempo die Musik ungemein mehr Reichtum und Dichte entfaltet, größerer Reichtum also eine langsamere Darbietung verlangt.

Ballot geht es vor allem um die weiten Strukturen dieser großartigen Musik. Die harmonische Instabilität dieses Werkes im Grenzbereich zu atonalen bzw. total-chromatischen Formen setzt er über den Maßen gelungen um. Bei großem, dennoch schwerelosem Klang, perfekt auf die Akustik der Stiftsbasilika abgestimmt und austariert, vermeidet er zwar weitestgehend das aufschreiend Schrille, was diese meisterhafte Partitur ebenso in sich birgt, dafür erlebt man episch weite, nie nachlassende, monumentale Spannungsbögen im Rahmen einer durch und durch überlegten Interpretation. Im Hinblick auf diese intellektuelle Interpretation im Zeichen einer stets auf Akustik und Raum konzentrierten musikalischen Phänomenologie erscheint es überzeugend, von straffem Orchesterspiel gänzlich Abstand zu nehmen. Besonders berührend gelingt Ballot am 23. August 2024 dann das Ende im Adagio, womit Bruckner „Abschied vom Leben“ genommen hat: Beim Klang der Hörner und Tuben über den zart pulsierenden Tremoli der Streicher vermeint man die Orgel der Stiftsbasilika St. Florian zu vernehmen, worunter Anton Bruckner seine letzte Ruhestätte gefunden hat …

Im ersten, von Prof. Dr. Felix Diergarten, kommentierten Teil, erklingen vor der Wiedergabe der IX. Symphonie Bruckners in der dreisätzigen Fassung ausgewählte Fragmente aus dem unvollendeten Finale – ohne Rekonstruktion fehlender Passagen und Takte bzw. der fehlenden Coda – Musik, die nur von Anton Bruckner selbst stammt.

Die Ausführenden haben es verdient, dennoch erscheint der Publikumsjubel nach diesem Konzert an diesem Ort im Grunde unangebracht. Vollkommene Stille wäre mehr gewesen.

Themenschwerpunkte
Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

Kommentare

  1. Peter Kislinger

    Zuvor (Kommentat zu Herbert Blomstedt am 11. Juli in St. Florian) unterlief mir bei der Eingabe meiner Emailadresse ein Tippfehler

  2. Peter Kislinger

    Kann Ihren Eindrücken, Argumenten und Ihrem esumee nur zustimmen. Zum immer wieder sich meldenden Gemeckere: Armin Knab: Bruckners Zeitmaße [1922]. In: Denken und Tun. Gesammelte Aufsätze über Musik. Berlin 1959. [166-169] … Bruckner muss mit erfüllter Ruhe gespielt werden … wie fast alle Musik, die häufig zu schnell, selten durch zu langsam verdorben wird.“
    Habe beide Aufführungen gehört (und war auch drei bei drei Proben anwesend). So eine NEUNTE mit einem Orchester, dessen Mitglieder großteils nicht in Orchestern engagiert sind, nach 6 oder 7 Proben auf so ein Niveau zu bringen, da bedarf es eines außergewöhnlichen Dirigenten. Dass Maestro Ballot auch mit einem „fixen Orchester“ Beispielhaftes zuwege bringt, hat er nach nur 3 Proben mit dem Stuttgarten Philharmonikern bewiesen (Burckners Fünfte – Tempi etwas zügiger als im Kirchenraum) NUR EIN Hinweis: Hat Bruckner die Neunte tatsächlich dem „lieben Gott gewidmet“? Klaus Heinrich Kahrs („Bruckner. Angt vor der Unermesslichkeit“ [2024, 2. Auflage] und Felix Diergarten (Bruckner. Ein Leben mit Musik, 2023) widmen sich der Frage. SEHR verkürzte Anwort. NEIN. BITTE auch Kohrs´ Artikel lesen: „„… wenn er’s annimmt“. Hat Bruckner seine 9. Symphonie dem „lieben Gott“ gewidmet? Hier nur ein Absatz: „In der kritischen Neuausgabe der 9. Symphonie durch Benjamin Gunnar Cohrs im Jahr 2000 spielt die „Widmung“ auch im nichtklerikalen Bereich verstärkt wieder eine Rolle.10 Der Herausgeber setzte sie, wenn auch in eckigen Klammern, in Versalien auf ein zusätzliches vor satzartiges Blatt. Das war ein Bruch mit den bisherigen Regularien der Gesamtausgabe, die Widmungen lediglich in den jeweiligen Vorworten erwähnte. Seitdem geistert sie durch die Konzertprogramme, CD Booklets und Feuilletons: Eine säkularisierte Welt delektiert sich am Entlegenen – so wie früher der Griechenland-Bildungsreisende die Mönche auf dem Athos besuchte. Aber auch analytische Betrachtungen sind von ihr infiltriert: Zirkulär rechtfertigt z. B. Rainer Boss seine Deutung des Hauptthemas der 9. Symphonie mit der als gesichertes Faktum vorausgesetzten Widmung: Die imposante Intervallstruktur mit drei aufeinanderfolgenden Majestas-Symbolen in fallenden Oktavsprüngen untermauert die Widmungsabsicht und läßt wie die vollendeten drei Sätze der Neunten selbst Symbolkraft zur Darstellung göttlicher Trinität erkennen.“

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert