Im vorletzten, neunten Abonnementkonzert der Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Andris Nelsons, mittlerweile zu einem Lieblingsdirigenten des Orchesters avanciert, gibt es gegen Ende der Saison ein spannendes, ungewohntes Programm zu hören.
Im ersten Teil des Konzertes am 2. Juni 2024 wird mit dem französischen Cellisten Gautier Capucon als Solisten das im Oktober 1959 in Leningrad uraufgeführte Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1, Es-Dur, op. 107, von Dmitri Schostakowitsch gespielt, dessen Widmungsträger kein Geringerer als Schostakowitsch‘ Schüler und Freund, einer der größten Cellisten aller Zeiten, Mstislav Rostropovich, war – ein Werk, das heute als Teil der (musikalischen) Abrechnung des Komponisten mit Stalin gilt. Das Instrument, das Gautier Capucon spielt, das Cello „L’Ambassadeur“ von Matteo Goffriller aus 1701, wie geschaffen für seinen mediterran glühenden Celloton, eignet sich hervorragend für den zweiten, melancholischen Satz, dessen berührende Eindringlichkeit besonders intensiv von Capucon vermittelt wird, und ebenso für den dritten Satz, dessen Monolog eine Solokadenz für das Cello darstellt. Für die Motorik und den tänzerischen Überschwang des ersten Satzes wie für den atemlosen Schlusssatz scheint das feine, edle Instrument weniger geeignet, die sprühende Virtuosität, mit der Capucon sein Instrument streicht, macht aber dieses vermeintliche Manko, das jedoch einen interessanten Kontrast zum grotesk trotzigen Charakter des Werkes darstellt, mehr als wett. Gemeinsam mit den Cellisten der Wiener Philharmoniker gibt es nach dieser fulminanten, bejubelten Wiedergabe ein von Capucon gemeinsam mit der Cellogruppe des Orchesters gespieltes Prelude von Schostakowitsch, vom Solisten auch selbst arrangiert.
Nach der Pause liegt auf den Notenpulten der Wiener Philharmoniker wieder einmal nordische Symphonik – die Symphonie Nr. 2, D-Dur, op. 43, von Jean Sibelius, im März 1902 in Helsinki uraufgeführt. Klingen hier die endlosen Wälder und tiefblauen Seen Finnlands? Oder Rosen, Kamelien, Mandelbäume, Zypressen und das Mittelmeer der ligurischen Küste, wo der Komponist 1901 zur Entstehungszeit des Werkes verweilte und wovon er schwärmte. Inspiriert wurde Sibelius auch von Dantes Commedia, Don Juan und Liszts Christus. Müßig, darüber nachzudenken. Das außergewöhnlich schöne Werk wird auch bei absoluter Herangehensweise in der Regel seine Vorzüge entfalten, vor allem dann, wenn so großsymphonisch, in herrlichem Breitwandsound vom Orchester beeindruckend wiedergegeben wie an diesem philharmonischen Mittag, weshalb man bedauert, dass dieser Komponist nur sehr selten von den Wiener Philharmonikern aufgeführt wird. Andris Nelsons führt die Formation straff und erreicht mit dem in allen Instrumentengruppen hervorragend aufgestellten Orchester eine von Leidenschaft durchtränkte Wiedergabe, die an Leonard Bernsteins Interpretation mit demselben Orchester vor ca. 40 Jahren denken lässt. Unglaubliche Klangschattierungen und großartige Orchesterfarben sind da zu hören, sodass auch das eher plakativ gehaltene Finale (die – heute widerlegte – Zeichnung des Widerstands Finnlands gegen die Russifizierung), in einem strömenden Orchestersog sondergleichen daherkommend, spannungsgeladenen Gehalt vermittelt.
Dankbar bescheiden nimmt Andris Nelsons den Applaus des Orchesters wie des Publikums entgegen.