„Seh die Leere still mit Gott verkehren / Und wie jeder Stern mit Sternen spricht.“ – dieses Zitat eines Gedichtes von Michail Jurewitsch Lermontow, in der deutschen Übersetzung von Rainer Maria Rilke, hat Riccardo Muti in seine Partitur von Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 9 d-moll op. 125 mit Schluss-Chor über Schillers Ode „An die Freude“ geschrieben. „Zum Himmel empor aus dem Nichts, aus der Stille zum Klang“ lautet denn das Credo des Dirigenten, was dieses kolossale, am 7. Mai 1824 in Wien uraufgeführte Menschheitswerk der Musikgeschichte betrifft, welches der italienische Maestro, ein Grand Seigneur unter den Dirigenten, anlässlich des 200. Jahrestags der Uraufführung der „Neunten“ mit den Wiener Philharmonikern gemeinsam mit dem von Johannes Prinz einstudierten Singverein der Gesellschaft der Musikfreunde im philharmonischen Abonnementkonzert am 5. Mai 2024 zur Aufführung bringt.
Und um es gleich vorwegzunehmen: Dieser philharmonische Vormittag wird lange in Erinnerung bleiben, was vor allem an der erfüllten, tiefen, ungemein reichen wie dichten Interpretation von Muti und dem einfach herrlich musizierenden Orchester liegt. Die gewählten Tempi sind organisch, stehen in wunderbarer Relation zueinander, nichts ist da verhetzt, alles fließt, Beethovens Satzbezeichnungen werden durch und durch ernst genommen, was von höchster Werkdurchdringung und ausgewiesener Interpretationskunst spricht, sind die Metronomangaben des Komponisten doch im Hinblick auf seine völlige Taubheit zur Zeit der Komposition des Werkes fragwürdig, weil durch sein Leiden den Gegebenheiten der Musikpraxis bereits völlig entfremdet.
Der nebelhaft unbestimmte Beginn des ersten Satzes klingt beinahe schon misterioso und weist in Mutis Interpretation bereits den Weg zur bruckner’schen Symphonik. Unerbittlich breitet er den Satz aus, gewaltige Tremoli brechen da auf, das ganze Satzgefüge bebt vor berstender Innenspannung, einige Stellen blühen in bezwingender Schönheit auf. Das großangelegte Scherzo kommt enorm schroff daher, bebende Spannung auch hier, derb fröhliche Stimmung mag so gar nicht aufkommen, Muti nimmt den Satz äußerst gewichtig. Und dann das Wunder dieser philharmonischen Matinee, wo der langsame dritte Satz das Tor zu einer anderen Welt eröffnet, friedvoll innig, in mildem Leuchten mit herrlichen Soli von Klarinette und Oboe erstrahlt diese beinahe schon entrückte Musik in nahezu vollendeter Schönheit und klingt mit fließender Wärme aus: Solch‘ eine Ruhe und Souveränität bei der Gestaltung dieses großartigen Satzes ist nur den Allergrößten unter den Dirigenten zu eigen. Nach dem Chaos der Einleitung gesellen sich zum Wiener Singverein noch vier exzellente SolistInnen – Julia Kleiter (Sopran), Marianne Crebassa (Mezzosopran), Michael Spyres (Tenor) und Günther Groissböck (Bass), stimmlich alle sehr gut disponiert und präsent. Wie Muti in diesem Finale die Massen aus Orchester, Chor und Solisten bündelt, wie der Chor die von Beethoven gesetzten, horrenden Schwierigkeiten meistert, wird die an sich unmögliche Utopie, dass alle Menschen Brüder werden, in dieser allumfassenden, kompletten Interpretation für kurze Momente Wirklichkeit. Das wirbelnde Prestissimo im Orchester ganz zum Schluss provoziert naturgemäß den Publikumsjubel, der an diesem Vormittag ob des Gehörten besonders heftig ausfällt.