Katia Ledoux heißt die neue Carmen an der Wiener Volksoper und schöpft die in Paris geborene, in Wien und Graz ausgebildete Mezzosopranistin, was die Rollengestaltung betrifft, uneingeschränkt aus dem Vollen. Die Sängerin hat eine seltene stimmliche wie darstellerische Ausstrahlung für diese komplexe Rolle – leuchtkräftig in den Höhen, mit warmem Mezzo-Timbre, dramatisch explosiv in den Ausbrüchen, dazu gesegnet mit einer starken Bühnenpräsenz. Dem Regieansatz, auf den noch eingegangen wird, entsprechend, zeichnet sich diese Carmen durch eigene Verletzlichkeit aus und verdeutlicht, dass diese ganz auf Libertè ausgerichtete Art zu leben und zu lieben Leiden an ihrem unentrinnbaren Schicksal miteinschließt. Für ihre überragende, sängerrinnendarstellerische Leistung wird sie in der Aufführung am 24. September 2024 vom Publikum zu Recht lautstark gefeiert.
Was die kleinen Rollen betrifft, hört man auf der Bühne eine gute Ensembleleistung – Alexandra Flood (Frasquita), Sofia Vinnik (Mercedes), Alexander Fritze (Zuniga), Michael Arivony (Morales), Karl-Michael Ebner (Remendado) und Marco di Sapia (Dancairo). Iulia Maria Dan ist eine Micaela mit herbem, in der Höhe leicht scharfem Sopran, das Rollenprofil erfüllt sie gut; bei Josef Wagner als männlich virilen Escamillo gibt es stimmlich wie darstellerisch noch Luft nach oben. Mittlerweile als Erik und Stolzing auch im Wagnerfach angelangt, kann man sich von Tomislav Muzek naturgemäß keine bis ins Detail ausgefeilte französische Stilistik, voix mixte wie zärtliche Lyrik erwarten, der Tenor gestaltet und singt jedoch einen über den Maßen überzeugenden Don José mit kräftigem, leidenschaftlichem, zwischendurch auch schmelzfähigem Tenor – und wird dabei von der famosen Hauptdarstellerin im Lauf des Abends von Szene zu Szene mehr und mehr mitgerissen.
Frischer Wind weht aus dem Orchestergraben der Wiener Volksoper und geht es, was die musikalische Seite dieser Neuproduktion betrifft, hoch her. Musikdirektor Ben Glassberg am Pult des hochmotivierten Orchesters der Wiener Volksoper setzt auf Drive, Verve, Rasanz und Schmiss, wenn er durch Bizets großartige Partitur bisweilen wie durch eine Operette von Jacques Offenbach fegt. An manchen Stellen wäre etwas Getragenheit bei dieser musikalischen Gangart gewiss mehr gewesen und klingt französische Eleganz mit spanischem Kolorit etwas anders, aber was soll’s, die Musik hat natürlich ihre Effekte und diese dürfen auch ausgekostet werden. Roger Diaz-Cajamarca hat den Chor der Wiener Volksoper sehr gut einstudiert, sodass schallender wie differenzierter Chorgesang an diesem Abend in der Volksoper zu vernehmen ist.
Die letzte Premiere von „Carmen“ mit der Musik von Georges Bizet und dem Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halèvy nach einer Novelle von Prosper Mèrimèe an der Wiener Volksoper gab’s 1995 und war’s für die Hausherrin an der Zeit, die Opèra comique in vier Akten nach 207 Aufführungen neu zu inszenieren. Lotte de Beer geht auch mit dieser Inszenierung neue Regiewege an der Wiener Volksoper, bringt frischen Wind auch in die Szene mit der Absicht, Traditionelles gerade in diesem Haus zu bewahren und mit der jeweiligen Neuproduktion kein Stück zu zertrümmern. Eigenartigerweise, um es gleich vorwegzunehmen, kommt diese Neuproduktion beim Publikum nicht an. Bei der Premiere wurde Frau de Beer vom Publikum mit Missfallenskundgebungen überschüttet und auch in der besuchten zweiten Aufführung der aktuellen Premierenserie raunt das Publikum deutlich über die Regie. Dies jedoch unverständlicherweise zu Unrecht. Zentraler, werktreuer Ansatzpunkt der Inszenierung ist die Freiheit einer freigeistigen Frau, die nicht nach den herrschenden Gesellschaftsregeln handeln will. Der Mythos, in dem diese freie Frau gefangen ist, wird aber hinterfragt. Im Wesentlichen kennt für die Regisseurin diese Carmen die Spielregeln des Lebens besser als die anderen, weshalb sie auch damit spielen kann, und erkennt, allerdings zu spät: „Dass dieses Spiel nicht FÜR sie, sondern mit IHR gespielt wird, und dass es unwiderruflich zu ihrem Tod führt.“ (Lotte de Beer). Gemeinsam mit Christoph Hetzer (Bühne) und Jorine van Beek (Kostüme) wird dieses Spiel vor den Augen des Publikums aufgerollt: Zunächst klischeehaft konservativ, was die Ausstattung angeht, dann immer mehr und mehr auf die Figur dieser faszinierenden Femme fatale konzentriert. Ab dem dritten Akt dominiert die Bühne eine Logenkonstruktion, wo der Chor Platz genommen hat: Der Chor besteht bei der ungemein innovativen Regisseurin nicht nur als Soldaten, Zigarettenarbeiterinnen, Schmugglern, StierkampfbesucherInnen und dergleichen, sondern repräsentiert deutlich auch die öffentliche Meinung – nicht nur die Moral der Bourgeoisie im Widerspruch zu Carmens Freiheitsdrang, auch den Mob, der sich schließlich sensationslüstern am Femizid delektiert, ja diesen sogar zu begrüßen scheint. Diese Regiearbeit hält den traurigen, mittlerweile beinahe schon alltäglichen, schrecklichen Geschehnissen, grausame Frauenmorde betreffend, bewusst einen Spiegel vor, wird doch in den meisten Fällen weggeschaut, bewusst oder unbewusst: Vielleicht hat sich gerade deshalb die Begeisterung des Publikums über diese Neuproduktion in Grenzen gehalten. Gespielt wird an der Wiener Volksoper Bizets Meisterwerk übrigens in der Urfassung mit Dialogen in der Übersetzung von Walter Felsenstein.