Christian Thielemann dirigiert „Die Frau ohne Schatten“: Ein Hochfest an der Wiener Staatsoper

Christian Thielemann Wiener Staatsoper Die Frau ohne Schatten
Das Ensemble und Christian Thielemann beim Schlussapplaus © Thomas Rauchenwald

Mit „Die Frau ohne Schatten“, diesem in nicht konfliktfreier Zusammenarbeit entstandenem Werk, haben Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal wohl ihre artifiziellste, symbolträchtigste Arbeit geschaffen. Das lange, vor fast 100 Jahren in der Wiener Staatsoper, am 10. Oktober 1919 uraufgeführte Stück – die letzte romantische Oper wie gleichsam Vollendung und Ende der Literaturoper – stellt sowohl für Ausführende als auch das Publikum eine der größten Herausforderungen überhaupt, was Musiktheater betrifft, dar. Wie in der Premierenserie und im Herbst 2019 wird das Werk in der aktuellen Wiederaufnahmeserie zur Gänze ohne Striche gespielt, wo wirklich jede von Strauss komponierte Note erklingt und dadurch vor allem die Figur der Amme in ihrer ganzen Bedeutung etabliert wird, jene Figur, deren Ausgestaltung insbesondere Hofmannsthal für besonders wichtig hielt.

Nur einige der größten Dirigenten überhaupt haben Premieren des Stückes an der Wiener Staatsoper geleitet: Nach Franz Schalk bei der Uraufführung noch Clemens Krauss, Karl Böhm, Herbert von Karajan, Giuseppe Sinopoli und Christian Thielemann. Letztgenannter dirigiert auch wieder die aktuelle Wiederaufnahmeserie im Haus. Und die Kombination des deutschen „Kapellmeisters“ – eine Bezeichnung, die er selbst besonders liebt – Christian Thielemann am Pult des am Abend des 21. Oktober 2023 in erstklassig besetzter Formation angetretenen Orchesters der Wiener Staatsoper, sprich Wiener Philharmoniker, stellt sich wiederum als besonderer, ja einzigartiger Glücksfall dar, schüttet das Orchester förmlich seinen ganzen silbrigen, schimmernden Prachtglanz ins Haus am Ring. Der Wiener Staatsoper ist der deutsche Dirigent besonders verbunden, am ersten Abend der aktuellen Aufführungsserie am 14. Oktober 2013 wurde er auf offener Bühne nach der Vorstellung zum Ehrenmitglied der Wiener Staatsoper ernannt, dem Vernehmen nach sind gemeinsame Projekte bis 2030 geplant. Der Riesenpartitur, die Kammermusik und vollen Orchesterklang, leichte Instrumentierung wie üppig große, sinfonische Szenen kombiniert, erweist der Maestro, entspannt wie glücklich in harmonischer Kooperation mit dem Orchester, seine besondere Referenz: Wann hört man je das ganze Werk ohne einzigen Gickser, ohne jeglichen Wackler, ohne noch so kleine Intonationstrübung über die volle Distanz. Mit der in allen Instrumentengruppen besonders glänzend aufgestellten Formation muss eine akribische Probenarbeit durch und durch geleistet worden sein; jede Verästelung, jede Stimme, sämtliche Klangfarben und Schattierungen zieht Thielemann mit beeindruckendem Dirigentenhandwerk aus dem Orchester und bleibt auch im stärksten Furor immer klar und transparent. Welch‘ fein geknüpften Klangteppich webt er doch den Künstlern auf der Bühne, animiert seine Musiker immer wieder aufeinander und auf die Sänger zu hören, dass alles und alle hörbar sind und bleiben. Zwischen Orchester und Dirigenten, das spürt man förmlich, herrscht hör- und sichtbar ein gegenseitiges Geben und Nehmen – das ist das Geheimnis, das diesen Abend zu einem ganz außerordentlichen im Repertoire macht. Unbedingt erwähnenswert sind auch die philharmonischen Soli – einerseits das fein sonore Cellosolo, andererseits das lyrisch ziselierte Violinsolo. Und so gerät der Abend zum Hochfest des Orchesterglanzes und, weil sich dieser Trend auf der Bühne überwiegend fortsetzt, zum Hochfest des Stimmglanzes.

Richtig besetzt ist dieses Mal die Partie der Amme mit einem dramatischen Mezzosopran – Tanja Ariane Baumgartner verleiht der Rolle mit ausdrucksstarkem wie schönstimmigen Gesang Furor und mephistophelische, dämonisch abgründige Größe. Der Kaiser ist kein jugendlich-dramatischer Tenor, sondern ein Heldentenor durch und durch: Andreas Schager meistert auch die hohe Tessitura der Partie bombensicher und gelingen ihm vor allem im zweiten Akt starke, dramatische, mit Stentorstimme gesungene Ausbrüche und, von Thielemann animiert, im dritten Akt wunderbar gesponnene, ausgesprochen schöne Legatobögen. Nach einem langen Flug erst zu Mittag in Wien gelandet, rettet Tomasz Konieczny den Abend, indem er für Michael Volle kurzfristig als Färber Barak einspringt. Nach dieser Strapaz kann es ihm niemand verübeln, dass er die ersten beiden Akte noch etwas auf Sparflamme singt, um Reserven für den starken dritten Akt zu haben, berührend ist seine mit warm strömendem Bariton gesungene Interpretation über den ganzen Abend. Dem Erfordernis eines zum Teil echten hochdramatischen Sopranes mit Strahl wie Stahl gleichsam in der Stimme wird Elena Pankratova als Färberin mehr als gerecht, gepaart allerdings mit bewegendem Ausdruckssingen, wartet sie doch auch mit leisen Zwischentönen auf. Was die persönliche Rollengestaltung anbelangt, neigt Frau Pankratova glücklicherweise nicht zur üblichen Darstellung der Färbersfrau als laute Hysterikerin, sondern zur im Grunde tief verletzten, mitleiderregenden Frau. Als Kaiserin und dem Werk seinen Namen gebende „Frau ohne Schatten“ durchlebt Elza van den Heever eine wahrhaftige und überzeugende stimmliche Entwicklung an diesem Abend. Anfangs noch etwas trällernd, hell und silbrig klingend, lässt sie im Verlauf der Handlung mehr und mehr einen jugendlich-dramatischen Sopran mit immenser Strahlkraft und voll aufblühender Höhe vernehmen und füllt ihre Stimme, aufbauend auf einer breiten Mittellage, die nie brüchig wird, sondern immer satt klingt, erlebbar mit warmen, großen Jubelton. Stimmlich wie künstlerisch gebührt daher den beiden Frauenrollen die Krone dieses Abends. Eine prägnante Leistung bietet auch Clemens Unterreiner mit bemüht starkem Bariton als Geisterbote. In weiteren, kleinen Rollen gefallen aus dem Hausensemble Maria Nazarova (Hüter der Schwelle des Tempels, Stimme des Falken) und Jörg Schneider (Stimme eines Jünglings), Martin Hässler (Der Einäugige), Evgeny Solodovnikov (Der Einarmige) und Thomas Ebenstein (Der Bucklige). Eine gelungene Ergänzung der musikalischen Seite liefern das Bühnenorchester, der Chor (Thomas Lang) und die Kinder der Opernschule der Wiener Staatsoper.

Für die Inszenierung verantwortlich ist der letzte Assistent eines der wohl größten Theatermachers Patrice Chereau, der französische Regisseur Vincent Huguet, der bei seiner Arbeit von Aurélie Maestre (Bühnenbild), Clémence Pernoud (Kostüme), Bertrand Couderc (Licht und Video) sowie Louis Geisler (Dramaturgie) unterstützt wird. Im Hinblick auf die letzte Neuinszenierung 1999 von Robert Carsen, der das Stück ganz aus der Psychoanalyse Sigmund Freuds entwickelt und dem Haus am Ring damit einen echten Wurf beschert hatte, wählt Huguet einen gänzlich entgegengesetzten Ansatz, indem er versucht, das symbolhafte Märchen für alle nur zu erzählen, auch auf das Risiko hin, dass jede/-r im Publikum dem Stoff einen anderen Sinn entnimmt. Ganz im Einklang mit dem Dirigenten Thielemann ist die Musik von Strauss bei diesem Konzept ein Katalysator, ein Leitfaden durch das Stück. Stark herausgearbeitet wird die Rollenentwicklung der drei völlig verschiedenen Frauencharaktere: Die Kaiserin (noch nicht der Menschenwelt zugehörig mit kristallinem Herzen), die Färberin (wahrscheinlich mit dem „Verbrechen“ einer Abtreibung belastet und untätig, was das schöne, von ihr erträumte Leben betrifft) und die Amme (die Einzige, die sich als „Mutter“ verhält, ihrem „Kind“, der Kaiserin, versucht mit allen Mitteln zu helfen und niemals Kinder bekommen, sondern bestraft wird). Klar und deutlich zeigt Huguet auch die Katastrophe des I. Weltkriegs, also jene Zeit, zu der das Stück entstanden ist und ja erst danach zur Uraufführung gebracht wurde – gleichzeitig auch jene Zeit, die Strauss am Ende des zweiten Aktes mit seinen atonalen Klangballungen komponiert hat und wo Frauen keine ausschließlich als Kanonenfutter dienenden Kinder in die Welt setzen wollten. Auf ihrem Weg durch Selbstüberwindung und Liebe zum Menschen werdend, begegnen der Kaiserin die Leichen in den Schützengräben des I. Weltkriegs und beschließt ein von der bösen Amme entfachter, die Kriegskatastrophe symbolisierender Flächenbrand die Szene des zweiten Aktes, wo sonst Wassermassen die armselige Behausung des Färbers zerstören und hinwegspülen. Sein „Plädoyer für Empathiefähigkeit“, was für ihn „Die Frau ohne Schatten“ darstellt, visualisiert Huguet denkbar einfach mit klaren Mitteln, ständig um Zugänglichkeit bemüht und schließlich bisweilen überzeugend. Personenführung wie –regie geraten umständehalber den horrend schwierigen Aufgaben, die die Gesangspartien den Darstellern abverlangen, geschuldet, schaumgebremst schlicht; mitunter hätte man sich etwas mehr an Aktion gewünscht, was auch eine Auseinandersetzung wie Problematisierung des Stückes betrifft.

Sei’s drum: Man hat „Die Frau ohne Schatten“ wiederum gesehen, wie sie sein soll, als Märchen für den aufgeklärten Menschen und man hat sie umso beglückender gehört, wie’s sonst nur an Festtagen stattfindet, in einer musikalisch vollendeten Wiedergabe. Der Jubel des Publikums fällt an diesem Abend für den Dirigenten, das Orchester und alle Sänger*innen noch lauter aus als sonst.

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Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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