„Don Carlo“ sei so etwas wie „die Bibel“ von Giuseppe Verdi erklärt Riccardo Chailly, Direttore musicale del Teatro alla Scala, im Vorfeld der aktuellen Produktion, die am 7. Dezember 2023 an der Mailänder Scala zur Premiere kam, über die musikalische Qualität der Partitur dieses Werkes. Gespielt wird an der Scala naturgemäß die Mailänder Fassung von 1884 mit dem Libretto von Joseph Méry und Camille du Locle in der Übersetzung von Achille di Lauziéres und Angelo Zanardini, also die vieraktige Version ohne Fontainebleau-Akt in italienischer Sprache, welche zugleich die kompakteste der vorhandenen Fassungen des Werkes aus der Feder Verdis darstellt. Verdis Meisterschaft auf dem Weg zum Musiktheater ist in „Don Carlo“ vollendet. Wird die musikalische Dichte in seinen Opern zuvor mehr und mehr intensiver, ist diese in „Don Carlo“ bereits zu Beginn ausgeprägt und verfeinert sich, im Grunde nur noch komplexer werdend, mehr und mehr.
Getreu seinem Bekenntnis gelingt dann auch Riccardo Chaillys Interpretation von diesem einzigartigen Meisterwerk nicht nur im Schaffen Verdis. Schon mit dem markanten Beginn im Orchester merkt man, dass dieser Abend vor allem musikalisch etwas Besonderes wird. Chailly am Pult des in allen Instrumentengruppen bestens aufgestellten Orchestra del Teatro alla Scala – schimmernd samtige Streicher, fein abgetöntes Holz, rundes Blech – setzt auf einen homogenen, überaus differenzierten Klang, wobei sämtliche Orchesterfarben und Orchesterschattierungen perfekt zur Geltung kommen. Bei organisch hervorragend gewählten Tempi – da ist alles goldrichtig, nie zu schnell, nie zu langsam – und bei perfekt austarierter Dynamik – nie zu laut, nie zu leise, immer die SängerInnen im Blickpunkt, die Chailly auf Händen trägt, denen er jeden Einsatz gibt – ist ein Dirigat der Extraklasse, Verdis angesprochene Dichte von Szene zu Szene intensivierend, zu bestaunen und wo man zu Karajan oder Abbado in die 1970er-Jahre zurückgehen muss, um bei diesem Werk ähnlich Qualitätsvolles gehört zu haben. Chapeau!
Aber nicht nur das Orchester, auch der von Alberto Mazzali einstudierte Coro del Teatro alla Scala agiert an diesem Abend im Grunde festspielwürdig und kann Ähnliches auch von den SängerInnen auf der Bühne behauptet werden. Aufgeboten sowohl als Frate des ersten als auch als Grande Inquisitore im dritten Akt orgelt Jongmin Park mit profundem Bass zur reinsten Freude. Maria José Siri als Elisabetta von Valois findet mit zögerndem, tremolierendem Sopran noch zu Beginn dann nach und nach in die Aufführung und gelingt ihr schließlich ein wunderschön gesungener, berührend gestalteter vierter Akt mit frei schwebenden Piani und Höhen. La principessa d’Eboli wird mit glutvollem Mezzo von Veronica Simeoni gesungen, die einen ungemein starken Abend hat und für einen glanzvollen Abgang mit einem furios gesungenen „O don fatale“ sorgt. Francesco Meli, offensichtlich ein Publikumsliebling an der Scala, findet nach spröd angestrengtem Beginn bald vollends in die undankbare Partie des spanischen Infanten, schließlich gelingt auch ihm eine sängerische Topleistung mit wunderbar timbrierten Tenorgesang. Die Krone des Abends gebührt aber zwei anderen Herren. Da ist zum einen der großstimmige, gewaltig aussingende, mitunter die Töne vielleicht etwas zu stark spreizende Bariton von Luca Salsi als Rodrigo, Marchese di Posa – etwas weniger wäre mitunter genug und vielleicht sogar mehr gewesen, dennoch beeindruckt der Sänger mit dieser imposanten Vorstellung seiner stimmlichen Möglichkeiten, vor allem in der Kerkerszene mit „Per me giunto“ und „Io morro“. Und da ist zum anderen der Scala-Veteran Michele Pertusi als Filippo II., re di Spagna als durch und durch italienisch gefärbter Bass in der Rolle des einsamen, verzweifelten Herrscher eines Weltreiches unter dem Joch der Inquisition: Abweisend kalt im königlichen Garten, gleichsam hilfesuchend wie majestätisch in der großen Szene mit dem Granden Posa, nahezu bestechend mit einer Lehrstunde an Phrasierungskunst und perfektem, auf dem Atem geführten Legatogesang in „Ella giammai m’amo“, beeindruckend mit unheimlich starker Phonation in der Szene mit dem Großinquisitor – Pertusi gelingt mit dieser denkwürdigen Studie des Filippo Re eine Meisterleistung durch und durch.
Was die Inszenierung betrifft, mögen Verfechter des modernen Regietheaters mit Visualisierungen aller Art wie Choreografien etc. sowie dem Einführen zusätzlicher Personen wie Handlungsebenen enttäuscht gewesen sein, verzichtet Regisseur Lluís Pasqual denn vollkommen auf Mätzchen dieser Art, indem er, unterstützt von Daniel Bianco (Bühne), Franca Squarciapino (Kostüme), Pascal Mérat (Licht) und Franc Aleu (Video) ausschließlich auf eine historisierende Inszenierung setzt. Man muss zu dieser tableauxartigen Regiearbeit, welche die Insignien der Macht ins Zentrum rückt, beinahe „Arrangement“ sagen – dennoch steht die Inszenierung ganz im Sinne des Werkes und ist vor allem, wie es sein soll, aus der Musik entwickelt. Pasqual lässt keinen Zweifel daran, dass das spanische Weltreich nicht von der Krone, sondern vom Klerus regiert wird – die kirchliche Inquisition ist allgegenwärtig. Die ganze Bühne erinnert an ein Gefängnis, an einen Kerker, aus dem es für alle handelnden Personen kein Entrinnen gibt. Dominierendes Element ist ein sich permanent öffnender wie schließender Zylinder – Seelenräume werden derart offengelegt, verdeckt, verschlossen. Gewiss, etwas mehr an Bewegung hätte dieser Arbeit mitunter nicht geschadet, die Statik wirkt sich jedoch wohltuend auf die stimmliche Rollengestaltung der SängerInnen aus, sind diese doch mit ihren höchst anspruchsvollen, komplexen Partien mehr als nur gefordert.
Lautstarker Publikumsjubel jedenfalls gibt es am 2. Januar 2024, der beim Erscheinen von Maestro Chailly noch anschwillt und wird dieser mit seinem Orchester auch von den SängerInnen gefeiert.