Eine junge Influencerin stirbt an Krebs – Lisette Oropesa berührt als Giuseppe Verdis „La traviata“ in Simon Stones Inszenierung an der Wiener Staatsoper

Bühnenbildelement in Simon Stones Inszenierung von Giuseppe Verdis "La traviata" an der Wiener Staatsoper © Thomas Rauchenwald

Zum Saisonauftakt spielt die Wiener Staatsoper Giuseppe Verdis am 6. März 1853 im Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführtes, dreiaktiges Melodramma „La traviata“ mit dem Libretto von Francesco Maria Piave. Ort und Zeit der Handlung sind in Paris des Jahres 1850 angesiedelt, als literarische Vorlage diente den Schöpfern eines der größten und populärsten Meisterwerke der Opernliteratur überhaupt „La dame aux camélias“ von Alexandre Dumas dem Jüngeren: Dieser Roman von Dumas, von dem auch eine Theaterfassung aufgeführt wurde, enthält autobiographische Elemente, indem er die Affäre zwischen dem Dichter und der früh verstorbenen Modistin und Kurtisane Marie Duplessis verarbeitet. Eine Oper über eine Kurtisane, die noch dazu an Tuberkulose stirbt, darüber hinaus ein Komponist, der nicht die Moral der jungen Frau anklagt, sondern ihr Leid in den Mittelpunkt der Handlung stellt sowie mit seinen Melodien beweint, war für die damalige Zeit eine unerhörte Neuerung.

Regisseur Simon Stone knüpft stark an diese Tatsachen an und verlegt die Handlung des Stückes – „der besten Liebesgeschichte aller Zeiten“, wie er selbst sagt – ins aktuelle Heute: Violetta Valéry ist eine junge Frau und Influencerin wie Bloggerin mit eigenem Parfum, die ihrem tragischen Schicksal, bei Stone Krebs, zum Opfer fällt, nachdem sie ihre oberflächliche, gewiss lasterhafte, nur von social-medias bestimmte Existenz hinter sich gelassen und die große Liebe ihres Lebens mit Alfredo Germont erfahren hat. Simon Stones Regiearbeit funktioniert tadellos, unterstützt von Bob Cousins (Bühne), James Farncombe (Licht) und Zakk Hein (Video): Der Regisseur mit australischen wie schweizerischen Wurzeln, der ebenso als Autor sowie als Film- und Schauspielregisseur tätig ist, hat Verdis Meisterwerk in unnachahmlicher Art überzeugend und konsequent aktualisiert. Societyliebling und IT-Girl Violetta wird eben als todkranke Influencerin, die selbst dann im Bilderrausch ihrer Instagram-Welt gefangen bleibt, wenn sie sich mit ihrem Geliebten auf das Land zurückzieht, dargestellt. Alles Private ist bei ihr öffentlich, dafür wird der für alle zugängliche, urbane Raum zu ihrem einzigen Rückzugsgebiet für Momente der Schwäche. Aber selbst ihr Sterben wird öffentlich gemacht und förmlich ins Rampenlicht gestellt. Am Ende öffnet sich der turmartige Quader, wo die Handlung abgelaufen und mittels E-Mails, SMS-Nachrichten und Emojis kommentiert wurde, einen Spalt, daraus dringt gleißendes Scheinwerferlicht, Violetta verschwindet, ja ihr Stern verglüht gleichsam darin: Derart begeistert man wohl auch junge Leute für die Kunstform Oper. Der Umstand, dass Violetta und Alfredo in der Inszenierung permanent auch auf Videos zu sehen sind, stellt das Haus vor eine große Herausforderung, was wechselnde Besetzungen der jeweiligen Protagonisten betrifft, weil das Stück ständig im Repertoire gegeben wird.

Was die musikalische Seite der Wiener Premiere betrifft, sind in den kleinen Rollen starke Stimmen aus dem Ensemble des Hauses zu hören, vor allem Alma Neuhaus (Flora Bervoix), Stephanie Maitland (Annina), und Ilja Kazakov (Doktor Grenvil). Martin Schebesta hat den Chor der Wiener Staatsoper zum Saisonauftakt gut präpariert. Das Orchester der Wiener Staatsoper spielt akkurat und sicher auf, am Pult waltet Domingo Hindoyan mit Knall und Brio, etwas mehr an Gestaltung darf man sich an einem ersten Haus wie der Wiener Staatsoper zwar erwarten, gelungen gerät jedenfalls die Begleitung der SängerInnen, was bei diesem Werk essenziell ist. Alfredo Germont gibt Juan Diego Flórez, der sich mit lyrischer Emphase und stimmlichen Totaleinsatz in die Partie wirft. Sein geschmeidiger, brillant wie geschmackvoll phrasierender Tenor gönnt sich selbst und dem Publikum auch den Spitzenton am Ende der einstrophig wiedergegeben Cabaletta am Ende seiner großen Szene zu Beginn des zweiten Aktes; am besten gelingen ihm seine große Arie im zweiten Akt und das Duett mit Violetta im Schlussakt, ständig ist die reife, nicht allzu große Tenorstimme um dramatische Intensität bemüht. Um Phonation und Kraft im Stimmorgan wahrlich keine Sorgen machen muss man sich beim Bariton Étienne Dupuis, für Ludovic Tezier als Giorgio Germont eingesprungen, der seine Rolle imposant zu gestalten weiß und mit hellem, kräftigem, hervorragend geführten Bariton das Publikum zu beeindrucken vermag. Die Titelpartie schließlich ist mit Lisette Oropesa besetzt – und, abgesehen davon, dass da eine hochattraktive Frau auf der Bühne, worauf keine „Traviata“ noch so aktuell, bildgewaltig und tragisch gestorben ist, steht, ist da eine der berührendsten Rollenvertreterinnen unserer Zeit bei einer fulminanten Gestaltung der Titelpartie zu erleben, bewegend bei ihrer darstellerischen Umsetzung von Verdis Intention, eine leidende Frau zu ehren und sie zur Heldin zu machen, dabei enorme Noblesse und Würde ausstrahlend. Gesanglich und musikalisch interpretatorisch bewegt sie sich gleichsam auf ungemein hohem Niveau: Bereits im Trinklied, im Duett mit Alfredo wie in ihrer ersten großen Szene im ersten Akt mit zweistrophig gesungener Cabaletta ist ihr Singen ungemein passioniert, sinnlich erfüllt. Innige, zu Herzen gehende Phrasen verströmt sie dann im Duett mit Giorgio Germont im zweiten Akt, das zweite Finale führt sie bewegend grandios. Phasenweiser entrückter Gesang dann im dritten Akt, vor allem in ihrer zweistrophig gesungenen, zweiten großen Szene, die ergreift und berührt. Auch immer wieder groß ausgesungene, intensive Töne lässt diese formidable, starke, zur Koloratur fähige Sopranistin vernehmen. Kurz vor ihrem Tod, wo sie neue Kraft zu spüren scheint – und dieser Moment geht unter die Haut – entpuppt sie sich auch als große Tragödin. Was das sängerische Niveau anbelangt, möge es im Haus am Ring im Laufe der Saison so überzeugend weitergehen, beim dirigentischen Niveau hingegen gibt es noch deutlich Luft nach oben.

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Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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