Uraufgeführt 1867 in Paris während der Weltausstellung, begeistert das fünfaktige drame lyrique „Roméo et Juliette“ – nach William Shakespeares „The Most Excellent and Lamentable Tragedy of Romeo and Juliet“ mit dem Libretto von Jules Barbier und Michel Carré – mit der sinnlichen Musik von Charles Gounod bis heute das Publikum. Die Neuinszenierung des Klassikers am 23. Februar 2023 im Museumsquartier, der Ausweichspielstätte des MusikTheaters an der Wien, war mit Spannung erwartet worden: Die Arbeit der Regisseurin Marie-Eve Signeyrole ist stark vom Film geprägt und setzt sie bei ihren Arbeiten Live-Video ein, um große Gefühle zu inszenieren.
Inspiriert von Filmfamilien und Filmpersönlichkeiten wie Francis Ford Copola und seiner Tochter Sofia Coppola fokussiert Signeyrole das Familiendrama um die verfeindeten Capulets und Montagues in Verona – hier zwei verfeindete Filmstudio-Dynastien, ihre Kinder (Roméo et Juliette) die jeweiligen Studiostars – ganz auf die Figur der Juliette und ihrer Familie, den Capulets. Juliette ist hier eine moderne junge Frau, deren Zustände das Publikum durch die Augen Juliettes, welche durch die Filmkamera ersetzt werden, erlebt. Signeyrole macht das Stück halb als Oper, halb als Film: Kann das gutgehen?
Um es gleich vorwegzunehmen: Es kann – zumindest zu einem großen Teil. Manches wirkt überflüssig, beispielsweise eingestreute Road-Movies, unterlegt von Pop-Musik, die den Fluss des Stückes beeinträchtigen. Die großformatigen Videos von Artis Dzerve oberhalb bzw. im Hintergrund, cinemascopeartig ablaufend, sind jedoch kunstvoll gemacht, diesbezüglich gebührt Céline Baril und Mariano Margarit, die während der Aufführung die Live-Kameras führen, großes Lob, auch, weil die Darsteller in Großaufnahmen weder vorgeführt noch peinlich präsentiert werden. Die flotten, dennoch geschmackvollen Kostüme stammen von Yashi. Bei der Inszenierung der Oper geht es der Regisseurin, wie sie im Vorfeld der Premiere selbst erklärt, vielmehr darum, von den Figuren berührt zu werden. Diesen Ansatz verfolgt sie konsequent, das Ergebnis spricht für sich. In modernem, zeitgemäßem Ambiente entfaltet sich eine der größten Liebesgeschichten der Weltliteratur trotz mitunter schräg schriller Aufmachung – Fabien Teigné (Bühne), Joni Österlund (Choreografie) – ungemein bewegend, rührend. Personenregie und Personenführung sind exakt aus der romantischen Musik heraus entwickelt, Signeyrole erfindet auch neue Bilder für die Handlung, die überzeugen: Naturgemäß gibt es beispielsweise die berühmte Balkonszene, auf dem Balkon ist aber Roméo, Juliette befindet sich darunter.
Der Einsatz von Video und Live-Kameras über weite Strecken, ein Charakteristikum der Arbeitsweise von Signeyrole als Regisseurin in ihren Inszenierungen überhaupt, stellt einen unmittelbaren Kontakt zwischen den Zuschauer*innen im Saal und den Darsteller*innen auf der Bühne dar, womit Distanzen zwischen diesen Ebenen überwunden werden. Für Juliette gibt es zwei Möglichkeiten – die Liebe oder den Tod. Beim Ausbruch aus dem Familienclan und der Suche nach einem eigenen Weg scheitert sie: Signeyrole erzählt diese Geschichte überzeugend am Stück mit moderner Technik, welche gerade junge Menschen für das Genre Oper begeistern könnte. Alle Figuren werden trotz starken zeitgemäßen Elementen wie gewohnt gezeigt – bis auf Bruder Laurent, der in dieser Version ein Cousin von Juliette ist, der im Grunde in sie verliebt ist.
Was die Musik betrifft, ist ebenso von einer im Verlauf des Abends mehr und mehr überzeugenden Aufführung zu berichten. Gewohnt superb agiert der Arnold Schoenberg Chor, bestens einstudiert von Juan Sebastian Acosta; die von Erwin Ortner geleitete Formation ist mittlerweile in sämtlichen Genres des Chorgesangs beheimatet. Auffällig am Ensemble ist, dass es sich, Ausnahmen bestätigen die Regel, um überwiegend und betont junge Sänger*innen handelt, die mit leidenschaftlichem Engagement und großer Begeisterung an ihre nicht leichten Aufgaben herangehen. Aus den kleinen Partien ragt vor allem Svetlina Stoyanova als Stephano heraus, gut besetzt sind auch Bruder Laurent mit Daniel Miroslaw und Capulet mit Brett Polegato. Ein Abend mit diesem Werk steht und fällt natürlich mit dem Liebespaar. Julien Behr bei seinem Debüt im MusikTheater an der Wien ist ein Bild von einem Roméo, mit wunderbarem Schmelz wirft er sich in die Partie, nach der Pause steigert er sich enorm, was lyrische Emphase und Phonation betrifft, im Laufe der aktuellen Premierenserie wird sein Tenor gewiss noch passionierter klingen. Mélissa Petit, dem Publikum im Museumsquartier schon bekannt, gebührt die Krone des Abends. Ihr gelingt eine bezaubernde Juliette, vor allem im zweiten Teil führt sie ihren Sopran flutend, mit leuchtenden Höhen und vermag dabei auch ihren Partner mitzureißen. Den beiden Protagonisten gelingt auch eine überzeugende Rollengestaltung wie Bühnendarstellung. Gesanglich ist anzumerken, dass an diesem Abend Liebhaber feiner französischer Stilistik mehr auf ihre Kosten kommen als Freunde großen, schallenden Operngesangs, zweiteres wäre bei diesem Werk aber nicht unbedingt immer idiomatisch.
Im Graben in der Halle E im Museumsquartier, wo auch die Tontechnik im nicht unbedingt für Musiktheater geeigneten Raum mittlerweile ausgezeichnet funktioniert, hat dieses Mal wieder das ORF Radio-Symphonieorchester Wien Platz genommen. Am Pult steht MusikTheater-Debütant Kirill Karabits, der das Orchester wunderbar durch Gounods elegante Partitur, mit Gefühl, ohne zu sehr aufs Sentiment zu drücken, führt. Mehr und mehr bringt er im Verlauf des Abends die Musik zum Pulsieren, zum Schweben, ist den Sänger*innen ein überaus hilfreicher Partner und gestaltet auch große dramatische Ausbrüche, wo das Orchester zwischendurch auch so richtig krachen darf.
Am Ende gibt es überwiegende Zustimmung für alle Beteiligten, die Buhrufe für die Regie sind in keiner Weise gerechtfertigt.