Am zweiten Abend in Paris stand in der Opéra Bastille „Vec Makropulos“, die dritte seiner sog. „Kamila-Opern“ und die wahrscheinlich beste Oper von Leos Janácek, nach dem gleichnamigen Drama von Karel Capek, mit dem Text vom Komponisten, auf dem Spielplan. Seit „Katja Kabanova“ weisen alle Opern des aus Mähren stammenden Komponisten nur mehr Spielfilmlänge auf und folgerichtig wird das Werk an der Bastille auch glücklicherweise pausenlos gespielt, was den Sog der gewaltigen, expressiven Musik nicht zerstört. Bei der Inszenierung des polnischen Regisseurs Krzysztof Warlikowski, die bereits 2007 zur Premiere kam, handelt es sich um eine Koproduktion der Opéra national de Paris mit dem Teatro Real Madrid, wo die Inszenierung 2008 gezeigt wurde. Nach 2009 und 2013 wurde die Produktion in Paris ob ihres riesigen Erfolges im Oktober 2023 nun wiederaufgenommen. Vorne an den Bühnenseiten sowie im Zuschauerraum positionierte Kameras lassen vermuten, dass diese Kultinszenierung, zu der sie mittlerweile avanciert ist, aufgezeichnet und so für die Ewigkeit festgehalten wird.
Der Regisseur Warlikowski kommt vom Film und naturgemäß spielt dieses Genre denn auch eine große Rolle in seinen Regiearbeiten, im besonderen Maß jedoch in seiner profunden Reflexion über Zeit und Unsterblichkeit in Janáceks vorletzter Oper. Die Tatsache der Spielfilmlänge des Stückes bildet wohl die zweite Ebene dieser filmisch inspirierten szenischen Umsetzung. Und Warlikowskis Ehefrau und Ausstatterin Malgorzata Szczesniak siedelt das ganze Stück in einem großen, an einen alten Kinosaal erinnernden Raum an und auch ihre schrillen Kostüme sind Film pur. Diese drei Ebenen zu einer schlüssigen, zwingenden Einheit zu verschmelzen, gelingt dem Regisseur auf beeindruckende Weise – verstärkt noch durch die großartig stimmige, plastisch filmische Lichtregie von Felice Ross. Letztendlich gerät diese wunderbare Regiearbeit zu einer berührenden Hommage an eine alternde Diva – bei Warlikowski eben keine Sängerin, sondern eine Schauspielerin, inspiriert vom großen Sexsymbol des amerikanischen Nachkriegsfilms, Marilyn Monroe. Es sind aber nicht nur Bilder der Monroe, die durch diese Inszenierung schwirren. Im Videodesign von Denis Guéguin sind auch noch andere Filmikonen wie Greta Garbo, Bette Davis, Rita Hayworth und Gloria Swanson zu erkennen. Die Figuren der Handlung in Janaceks Oper schälen sich optisch immer wieder aus Filmen wie „Something’s Got to Give“ (George Cukor), „King Kong“ (Merian C. Cooper und Ernest B. Schoedsack), Gilda (Charles Widor) sowie „Seven Years of Reflection“ und „Sunset Boulevard“, beide von Billy Wilder. An von Regisseur Cukor genannten, letzten Film der Monroe vor deren frühen Tod erinnert auch die ergreifende Sterbeszene der Emilia Marty alias Elina Makropulos, wenn diese in den Pool links auf der Bühne, vom Zuschauer aus gesehen, kippt, um dann zu sterben. Im zweiten Akt wird die 337 Jahre alte E. M. von King Kong getragen: Die geschätzte zehn Meter hohe Büste des Gorillas ist wohl eines der größten Requisite, das überhaupt für eine Opernbühne konstruiert wurde. Und weil das noch nicht genug ist, diese ergreifende Hommage an Marilyn Monroe und den Film überhaupt, visualisiert Warlikowski auch das legendäre Foto der Sex-Ikone von Sam Shaw, wo ihr Kleid vom Fahrtwind aus dem U-Bahn-Schacht angehoben wird: Wahrlich großes Kino hat der Regisseur mit dieser Inszenierung geschaffen.
Mag eine Inszenierung noch so sehr überzeugen, die Oper lebt im Grunde aus der Musik und gelingt auch die Umsetzung von Janáceks später Partitur, die zur besten Musik des 20. Jahrhunderts überhaupt zu zählen ist, auf spektakuläre Weise. Susanna Mälkki am Pult des Orchestre de l’Opéra national de Paris legt von Beginn an eine forsche, zügige Gangart an den Tag, Janáceks blühende Lyrismen, das melosartiges Fließen wie die hämmernden Schläge der kleinzeiligen, ganz aus der mährischen Sprachmelodie heraus entwickelten Musik nicht aussparend, und das bestens disponierte Orchester folgt der Dirigentin bereitwillig. Von Beginn an steht dieser Abend unter Hochdruck, ja unter Hochspannung und kann diese von Frau Mälkki mit eleganten, dennoch bestimmenden Dirigierbewegungen bis zum Schluss gehalten werden. Danach entlädt sich in der Bastille der orkanartige Applaus des Publikums, in den auch völlig zu Recht die übrigen Ausführenden miteinbezogen werden, ist an diesem Abend doch ein Ensemble der Extraklasse aufgeboten.
Selbst die kleinen bzw. kleineren Partien sind ganz den jeweiligen Rollen entsprechend exzellent besetzt – Nicholas Jones (Vitek), Ilanah-Lobel-Torres (Krista), Cyrille Dubois (Janek), Károly Szemerédy (Dr. Kolenaty) und Peter Bronder (Hauk-Sendorf). Als Albert Gregor lässt Pavel Cernoch fein leidenschaftlichen Tenorgesang verströmen, als einziger Native Speaker verfügt er über eine brillante slawische Intonation. Baron Jaroslav Prus wird von Johan Reuter gegeben und ist der mit seinem starken, prägnanten und fordernden Bariton einmal auch stimmlich ein echter Gegenspieler der Marty, ihr Kontrahent auf Augenhöhe. Schließlich ist da noch das sowohl in stimmlicher als auch in darstellerischer Hinsicht überragende Rollenporträt von Karita Mattila als E. M. . Natürlich ist die Stimme schwerer, dunkler geworden, was aber hervorragend zur Figur der alternden Diva passt, ist aber noch perfekt fokussiert und versteht es Frau Mattila über den Maßen hervorragend, diese Stimme zu führen wie zum Leuchten zu bringen. Ihre Ausrufe und Bekenntnisse im dritten Akt, Seelenschreien gleich, gehen förmlich unter die Haut, fahren direkt ins Herz – nach Anja Silja hat es wahrscheinlich bis dato keine Sängerin gegeben, welche diese Rolle für eine – zwar im Herbst ihrer Karriere stehende, jedoch noch über alle stimmlichen Ressourcen verfügende – Sopranistin derart bewegend gestaltet hat. Hervorzuheben ist auch ihre überragende Bühnenpräsenz, mit der sie diese mysteriöse Rolle ausstattet. Genauso wie an diesem Abend kann und muss Oper sein!