Dem britischen Theatermacher Adrian Noble haftet als langjähriges Mitglied, künstlerischer Leiter und Intendant der Royal Shakespeare Company eine besondere Affinität zum Werk des großen englischen Dramatikers William Shakespeare an. Für die Wiener Staatsoper war die Regie zu Giuseppe Verdis lyrischem Drama in vier Akten mit dem Text von Arigo Boito, „Otello“, nach Händels „Alcina“ und Humperdincks „Hänsel und Gretel“ bereits seine dritte Arbeit und hat sich die Inszenierung, wobei er von Dick Bird (Austattung) und Jean Kalman (Licht) unterstützt wurde, mittlerweile im Repertoire etabliert. Noble und sein Team verlegen die Handlung ins 19. Jahrhundert, um in stark an Gemälde von Edvard Munch erinnernden Bilder die Konflikte zwischen den in Zypern ansässigen Beherrschten und den venezianischen Besatzern zu verdeutlichen. Im Zentrum der Regiearbeit steht William Shakespeare, der die menschliche Eifersucht als gefährlichstes wie menschlich zerstörerischtes Gefühl betrachtet, noch weit über Zorn und Hass hinausgehend. Ergo wird der Intrigant Jago bösartig und charakterschwarz gezeigt, im deutlichen Kontrast dazu wird Desdemona mit der Reinheit nahezu einer Madonna dargestellt, dazwischen steht Otello als großer Liebender, der als letzte Konsequenz zum Eingeständnis für seine Schuld auch den Selbstmord nicht scheut. Von diesem starken shakespear’schen Ansatz inspiriert, entwickelt Noble im Ergebnis aus der Musik eine gekonnte, überzeugende Personenregie wie Personenführung.
Was die Besetzung der kleinen Rollen angeht, kann das Ensemble der Wiener Staatsoper in seiner ganzen Homogenität überzeugen – Bekhzod Davronov (Cassio), Ted Black (Roderigo), Ilja Kazakov (Lodovico), Leonardo Neiva (Montano) und Szilvia Vörös (Emilia). Balsamisch schweres, giftiges Parfüm wie sinnlich prächtigen Baritonklang versprüht der im Zenit seiner Karriere stehende Ludovic Tézier als zynisch hintergründiger, gleichsam auftrumpfender Jago, stimmlich an den exponierten Stellen im Credo wie im Schwurduett mit seinem Bariton aus dem Vollen schöpfend, und stellt derart schlicht eine Idealbesetzung für einen der größten Bösewichte der Operngeschichte dar. Rachel Willis-Sorensen gibt eine im Grunde berührende Desdemona, mit manchmal zu großer Sopranstimme, mehr spinto denn lirico, jedenfalls eine Persönlichkeit auf der Bühne. Im Kontrast dazu, das heißt, obwohl mehr lirico denn spinto, vermag Publikumsliebling Jonas Kaufmann in der Titelrolle mit einer letztlich im Ergebnis ungemein feinen, melancholisch introvertierten Interpretation des venezianischen Feldherrn nicht nur zu gefallen, sondern ebenso zu überzeugen. Zweifellos noch über die physique du role für die wohl schwerste wie anspruchsvollste Tenorpartie im italienischen Fach verfügend, fordert die Rolle Kaufmann sicht- wie hörbar. Der deutsche Tenorstar teilt sich die komplexe Partie aber gekonnt ein, um vor der Pause mit einem gelungenen „Esultate!“, hier vor allem mit dem Aufschwung auf „l‘uragano“, einem starken „Ora e per sempre“ und einem, perfekt mit Tézier abgestimmten, gleich einem Strom gesungenen „Si pel ciel“ zu begeistern. Die gewaltige Phonation, die er zwischenzeitlich in diesen Passagen entwickelt, fordert natürlich Tribut, der Monolog „Dio mi potevi“ und Otellos Tod „Niun mi tema“ im zweiten Teil des Abends nach der Pause überzeugen mehr durch bewegende Gestaltung denn Stimmkraft – „Was uns an Otello erschüttert, ist nicht seine Eifersucht als solche, sondern sein Irrtum: …“: Dieses Zitat von Max Frisch kommt bei Kaufmanns Rollengestaltung unweigerlich in den Sinn.
Sehr gut auf seine nicht unwesentliche Aufgabe vorbereitet präsentiert sich der von Thomas Lang einstudierte Chor der Wiener Staatsoper – und findet das Operndrama in der Aufführung am 28. Oktober 2023 auch im Graben statt, wo am Pult des Orchesters der Wiener Staatsoper dem jungen britischen Dirigenten Alexander Soddy, jüngst in Paris noch bei einer Premierenserie von Wagners „Lohengrin“ höchst erfolgreich, eine ungemein differenzierte Wiedergabe von Verdis später Partitur gelingt. Die Musik dynamisch in extremen Bereichen auslotend setzt der Dirigent auf starke Kontraste, vom subito piano bis zu extremen Ausbrüchen ist die ganze Orchesterpalette zu vernehmen, Stimmungen und Schattierungen der Musik werden direkt und klar herausgearbeitet. Faszinierend gerät der Bogen, den der Dirigent über das Stück spannt: über den Sturm am Beginn und den Frieden der Plejaden-Nacht sowie den unruhigen Wind im vierten Akt, bis sich die Stürme endlich legen: Diese gestalterisch bereits reife Interpretation macht klar, dass die Stürme, die sich im Orchester auftun, auch die Stürme im Herzen wie in der Seele Otellos sind.
Zu Recht spendet das Publikum jubelnden Applaus für einen insgesamt hervorragenden Repertoireabend an der Wiener Staatsoper.