Der Uraufführung ist ein langer Schaffensprozess vorausgegangen, schließlich ist das Werk 2018 in Mailand doch herausgekommen, da war der Komponist bereits 92 Jahre alt: „Fin de Partie“ („Endspiel“), einer Adaption von Samuel Becketts 1957 in London uraufgeführtem, gleichnamigem Schauspiel, das als Paradebeispiel für absurdes, existenzialistisches Theater gilt, von György Kurtàg, in dessen Schaffen das Komponieren für Stimmen und für literarische Sprache einen großen Stellenwert einnimmt. Samuel Beckett ist dabei einer der wichtigsten Autoren in seinem Leben überhaupt und mit „Fin de Partie: Scènes et Monologues“, wie das Stück im vollständigen Titel heißt, hat Kurtàg, auf Empfehlung seines Freundes seit Studienzeiten, György Ligeti, seinen Opernerstling und bisher größtes Werk geschrieben. Die Oper in einem Akt folgt, unter wortgetreuer Verwendung von ungefähr zwei Drittel des Originaltextes, dem Bau des Schauspiels, wobei Kurtàg dabei auch Becketts abgründigen, tiefschwarzen Humor zu seinem Recht verhilft. Das Werk zeichnet sich jedenfalls durch die musikalische Durchdringung und Spiegelung von Sprache aus. Es ist nicht auszuschließen, dass der mittlerweile 98-jährige, noch immer komponierende Komponist weitere Teile aus dem Drama Becketts in Töne setzt, bezeichnet er die uraufgeführte Fassung doch als „versione non definitiva“.
In einer beinahe unbewohnbaren, unwirklichen und lebensfeindlichen Welt fristen vier Gestalten, teilweise stark bewegungseingeschränkt, ihr Dasein. Sie hassen und quälen sich, sind aber letztendlich voneinander abhängig, und warten auf „das Ende“. Der Inhalt des Stückes ist vielfach versucht worden, zu deuten: Theodor W. Adorno hat es mit „Fin de partie zu verstehen, heißt seine Unverständlichkeit zu verstehen“ versucht, Beckett selbst lässt die Hauptfigur Hamm „Das Ende liegt im Anfang und doch macht man weiter“ sprechen. Interpretationen kreisen auch um die Frage, was die Handelnden in diesem Stück personifizieren: Hamm womöglich die Ignoranz der Mächtigen gegenüber der drohenden Vernichtung, Clov vielleicht die Angst vor der rettenden Veränderung? Nagg und Nell in den Mülltonnen die Ignoranz oder den Rückzug von aller Welt? Soll das Publikum über die Schrecklichkeiten auf der Bühne lachen? Handelt das Stück von den Käfigen und dem Leid, welches wir Menschen uns selbst schaffen und uns schließlich damit identifizieren?
György Kurtàg hat ein Werk mit individuell unverkennbarer, hochtheatraler Klangsprache geschaffen, eine Literaturoper im klassischen Sinne. Die Musik erinnert an einen Streifzug durch die Musikgeschichte – in ihrer zwingenden Reduktion an Claudio Monteverdi, in ihrem monologisierend deklamatorischen Vokalstil an „Pelleas et Melisande“ von Claude Debussy und „Saint Francois d’Asisse“ von Olivier Messiaen sowie in ihrer kleinzeiligen Kompaktheit an Anton Webern. Nur vier Gesangsstimmen stehen einem großen – mit tieferen Instrumenten wie Alt- und Bassflöte, Englischhorn, Kontrafagott, Tuba, gestimmten Schlaginstrumenten, Celesta, mit Dämpfer gespieltes Pianino, Klavier und Cymbalom ungewöhnlich, dem ungarischen Lokalkolorit huldigenden, besetztem – Orchester, das meist nur in Minimalbesetzung eingesetzt und oft zu kammermusikalischen Momenten angehalten wird, gegenüber. Die Orientierung von Kurtàgs Musik ist punktgenau auf den emotionalen Gehalt von Becketts Text ausgerichtet, wobei der Detailgrad bis zu einzelnen Silben und Lauten reicht. Selten erklingen kurze, orchestrale Zwischenspiele, die Vokalpartien sind ausgedehnt rezitativisch gestaltet, mit nur wenigen gesangvoll lyrischen Stellen.
Nach „Le grande macabre“ von György Ligeti in der vergangenen wagt sich die Wiener Staatsoper im Rahmen einer österreichischen Erstaufführung nun wieder an ein Meisterwerk avantgardistischen Musiktheaters und liegt der aktuellen Wiener Produktion die uraufgeführte Mailänder Fassung zugrunde.
Dirigentin Simone Young, für die diese Oper „wie fantasievoll betonte Sprache“ klingt, hat sich vor den Proben und den Aufführungen im Haus am Ring mit dem Komponisten in Budapest über sein Werk unterhalten und das Stück unter Einsicht der Notizen in seiner persönlichen Partitur mit ihm durchgearbeitet. Und die Umsetzung der höchst spannenden, mit ständigen, unzähligen Taktwechseln komplizierte Partitur gelingt ihr einfach hervorragend: Neben grandiosen, spielfreudigen SängerInnen auf der Bühne sitzt im Graben ein höchst motiviertes, in unzähligen Farben funkelndes Orchester der Wiener Staatsoper. Derart interpretiert, kann diese kleinzeilige Musik auch sinnlich schillern, kommt deren enorme, einem pointilistischen Impressionismus gleichkommende Farbpalette, ungemein zur Geltung, die Dirigentin erreicht das mit ihren typisch fließenden, mitunter groß ausufernden Dirigierbewegungen. Höchst gekonnt unterstützt ihr Interpretationsansatz mit dem betont transparent aufgefächerten Orchestersatz die Singstimmen, die derart sehr deutlich hörbar sind – und kann die von Kurtàg mit dem immer leisen spielenden, groß besetzten Schlagwerk erzeugte „komponierte Stille“ durch die subtile, souveräne musikalische Leitung ihre volle Stimmigkeit entfalten, am Schluss im aufmerksamen Hörer sogar eisige Beklemmung erzeugen.
Die vier SängerInnen auf der Bühne überzeugen nicht nur durch ihr Spiel, sondern und vor allem auch durch vokale Glanzleistungen. Philippe Sly als Hamm, der wichtigsten Figur und größten Partie der Oper, begeistert mit seinem wohl timbrierten, perfekt geführten Bariton, die ausufernden Monologe füllt er mit Nuancen wie Spannung. Georg Nigl als Clov ist vokal ungemein differenziert, sein Bariton ist einerseits stark und durchsetzungskräftig, andererseits ungemein feinzeichnend. Hilary Summers als Nell hat diese Rolle bereits bei der Mailänder Uraufführung gesungen, ihre sensibel geführte, sehr schön gefärbte Altstimme spinnt feine Linien und Charles Workman gestaltet mit tragfähigem, charakterstarkem Tenor den alten Nagg.
Die Regiearbeit von Herbert Fritsch zu „Fin de partie“ stellt nach der Mailänder Uraufführung und einer Produktion in Dortmund die nunmehr dritte Inszenierung von Kurtàgs Oper dar. Die Umsetzung des komplexen, vielschichtigen Stückes von Überlebenden vor dem Ende aller Zivilisation, eines Stückes, wo am Ende die menschliche Existenz nur mehr ein Warten auf den Tod darstellt, erfolgt bei ihm vor allem mit Gesten und Grimassen im Sinne einer „Gestenpartitur“, einer „Grimassenpartitur“ und entbehrt auch nicht einer bisweilen übertriebenen Clownerie. Die Regie vertraut damit der Musik Kurtàgs mit ihrem Klangbild nahe an Varietè und Zirkus, die Gebärden und Gefühle in Klänge übersetzt. Fritsch ist auch für die grellbunten Kostüme und das Bühnenbild verantwortlich, die Lichtregie hat Friedrich Rom beigesteuert. Die Schwierigkeit der Regie besteht in erster Linie darin, ein Kammerspiel auf der großen Bühne der Wiener Staatsoper zu zeigen, was Fritsch, der früher als Schauspieler selbst den Clov gespielt hat, in nahezu grandioser Manier gelingt, entwickelt er doch in einem kalt ausgeleuchteten Endzeitbunker eine detailreiche, nahezu perfekt sublime, psychologisch höchst fundierte Personenregie, wodurch die Situation der Ausweglosigkeit in diesem Stück allgegenwärtig ist. Am Ende löst sich sogar der Bunker auf – im Sinne eines allumfassenden Endes nicht nur der Personen, sondern auch von Raum und Zeit? Fritsch ist eine herausragende Regiearbeit gelungen, der akribische Proben vorangegangen sind, um den handelnden Personen auf der Bühne in der jeweiligen Aufführung dann doch wieder eine gewisse Freiheit bei Gestaltung wie Entfaltung ihrer Darstellung angedeihen zu lassen.
Große Begeisterung herrscht am Schluss für alle Mitwirkenden, auch in der besuchten Aufführung am 22. Oktober 2024. Schade, dass György Kurtág aus gesundheitlichen Gründen keine Aufführung seines Werkes in Wien persönlich miterleben konnte, ist der Wiener Staatsoper mit dieser Produktion doch wieder einmal ein richtiger Wurf – musikalisch und szenisch – gelungen. Das Publikum zeigt sich an diesem Abend allerdings nicht von seiner besten Seite: Ständige Gespräche während der Vorstellung und permanentes Checken von Nachrichten am Mobiltelefon stören gewaltig, ebenso, dass reihenweise BesucherInnen geräuschvoll die Aufführung verlassen: Das Stück mit seiner scheinbar zum Paradigma erhobenen Sinnentleerung ist bedauerlicherweise furchtbar aktueller denn je.
Kommentare
Großartig ge- und beschrieben mit sehr großer Kenntnis aller Hintergründe und der Aufführung vorangegangenen, engagierten und umgesetzten Ideen, Diskussionen und Proben .. So Simone Young im Gespräch mit dem Komponisten..
Danke, Deine tolle Rezension macht große Lust, das Werk live in der Staatsoper zu erleben!