Mahler überwältigend – Andris Nelsons mit der V. Symphonie im philharmonischen Abonnement

Andris Nelsons und die Wiener Philharmoniker in der Matinee am 20. Oktober 2024 im Musikverein © Thomas Rauchenwald

Bevor es auf große Tournee nach Asien geht – zweiundzwanzig Konzerte binnen vier Wochen in Südkorea, China und Japan – haben die Wiener Philharmoniker im zweiten Abonnementkonzert der laufenden Saison Andris Nelsons ans Pult gebeten, der Dirigent begleitet das Orchester auch auf die Asienreise.

Manche im Publikum mögen im Sommer 2022 in Salzburg dabei gewesen sein, als das Orchester die Symphonie Nr. 5, cis-moll, von Gustav Mahler unter demselben Dirigenten eher schleppend denn kompakt zur Aufführung brachte – in der heutigen philharmonischen Matinèe am 20. Oktober 2024 war davon nichts mehr zu vernehmen, so mitreißend homogen gestaltet gerät das in den Sommern 1901 und 1902 entstandene Werk nun in Nelsons‘ Wiedergabe mit dem in allen Gruppen hervorragend disponierten Orchester.

Aufgesetzte Stellen – oft ein Problem bei der Mahler-Interpretation? Fehlanzeige. Der aus Lettland stammende Dirigent, gegenwärtig 21. Gewandhauskapellmeister in Leipzig und Music Director in Boston, den mittlerweile bereits eine langjährig vertraute Zusammenarbeit mit den Wiener Philharmonikern verbindet, nimmt vor allem die Satzbezeichnungen Gustav Mahlers in diesem Werk, aus dessen Tönen Schwermut, Trauer, Resignation, Sehnsucht nach Erlösung und befreiende Überwindung alles Belastenden spricht, ausgesprochen ernst, wodurch sich das im Laufe des Werkes mehr und mehr aufhellende „Programm“ mit nahezu zwingender Logik entwickelt.

So klingt der erste Satz, der einleitende „Trauermarsch“, nach zu Beginn vielleicht etwas zu „gemessenem Schritt“ – mehr und mehr wirklich wie ein „strenger Kondukt“, bis sich dieser erste Satz wehmütig in stiller Resignation auflöst. Selten stürzt der zweite Satz „Stürmisch bewegt, mit größter Vehemenz“ den gebannte HörerInnen in derartige seelische Abgründe, die Nelsons dramatischer Zugang, mit das Auditorium nahezu überfahrenden Elan, hier aufreißt. Im ausgedehnten „Scherzo“, dem dritten Satz, dominiert die reinste Spielfreude und stellt so, auf den Punkt gebracht, der trüben, mitunter infernalischen Stimmung der vorangegangenen beiden Sätze eine schöne, ausgewogene, mit Ländlern und Walzern nahezu romantische Stimmung, die Nelsons noch zusätzlich betont, gegenüber. Die Instrumentation des vierten Satzes, des berühmten „Adagietto“, dieser Verbindung von Liebe und Tod – diese Musik wurde bekanntlich von Luchino Visconti als Filmmusik zu seiner Verfilmung aus 1971 von Tod in Venedig von Thomas Mann verwendet – beschränkt sich auf Harfe und Streichorchester und ist es müßig zu erwähnen, dass dieser Abschnitt derart vollendet nur von den Streichern der Wiener Philharmoniker gespielt werden kann: Der Dirigent lässt sich hier vom Orchester förmlich mitreißen und gestaltet manche Phrasen noch betont gefühlvoller, „wienerischer“ als sonst. Ganz vorzüglich in Tempo und Ausdruck gerät auch der letzte Satz, das „Rondo-Finale“, dessen übergroßen Reichtum an thematischer und kontrapunktischer Eingabekraft Mahlers der Dirigent in einem einfach hinreißend gesteigerten Schluss gipfeln lässt, der in unmittelbar nach dem letzten Ton jäh aufbrandenden Publikumsjubel übergeht. Eine überwältigende Interpretation: So soll Mahler klingen.

Die Wiener Philharmoniker präsentieren sich an diesem philharmonischen Vormittag wieder einmal als herausragendes Mahler-Orchester, musizieren über den Maßen klangintensiv bei immerwährender Transparenz des Orchestersatzes. Orchester- wie Spielkultur sind nahezu beispiellos eindrucksvoll, selbst die horrenden Anforderungen an das Blech klingen wie selbstverständlich. Das Orchester ist bestens für die lange, gewiss kräftezehrende Tournee gerüstet.

Vor der Pause gestalten Orchester und Dirigent mit der aus Japan stammenden Geigerin Midori das zwischen 1915 und 1917 entstandene Violinkonzert Nr. 1, D-Dur, op. 19 von Sergej Prokofieff – ein Werk mit kammermusikalisch-intimen Grundcharakter. Die Violinistin spielt eine Guarnerius des Gesù „ex Huberman“ von 1734 und kann sich das Instrument, das sich durch einen besonders feinen, zarten Klang auszeichnet, bedauerlicherweise nicht immer gegen das mittelgroße Orchester durchsetzen, obwohl die Solistin mit starkem klanglichem Raffinement und technisch makellos – Doppelgriff- wie Trillerpassagen – musiziert. Die große Kunst der Solistin offenbart sich dem Auditorium erst bei einer erfüllten Zugabe von Johann Sebastian Bach.

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Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

Kommentare

  1. Sylvia Bischof

    Ich habe dieses Konzert schon Freitag im konzerthaus gesehen und es war ein überwältigendes Erlebnis! Danke für Ihre Rezension. Danke, auch wenn ich mich nicht immer melde.

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