Verdis „Don Carlo“ neu an der Wiener Staatsoper – ein szenisches Desaster bei musikalischer Gediegenheit

Asmik Grigorian (Elisabetta), Joshua Guerrero (Don Carlo) und Komparserie in "Don Carlo" an der Wiener Staatsoper © Wiener Staatsoper / Sofia Vargaiova'

Die erste Premiere der Wiener Staatsoper in der aktuellen Saison gilt Giuseppe Verdis „Don Carlo“, dem dramma lirico in vier Akten mit dem Text von Camille du Locle, Achille de Lauzières und Angelo Zanardi in der Mailänder Fassung von 1884, welche in ihrer Dichte gleichzeitig die fesselndste darstellt.

Als ob er diese unglaubliche Regietristesse dieser Neuproduktion übertönen möchte, setzt Musikdirektor Philippe Jordan zu Beginn seiner letzten Wiener Saison – es ist unverständlich, dass die Verantwortlichen einen derart überzeugenden Musiker mit seinem enorm breiten Opernrepertoire ziehen lassen – betont ganz starke Akzente am Pult des Orchesters der Wiener Staatsoper. Unglaublich, was diese Formation immer wieder zu leisten imstande ist, haben doch viele MusikerInnen im Orchester am Vormittag auch noch Strawinsky und Schostakowitsch im philharmonischen Abonnementkonzert gespielt. Verdis musikalisch vielleicht bestes Werk birst förmlich vor innerer Dramatik, die Gestaltung ist ausgenommen stark, das Geschehen gleichsam einem gewaltigen Crescendo stetig vorantreibend und auf die Höhepunkte zusteuernd. Dafür, dass auch die Ruhepole und lyrischen Momente der grandiosen Partitur nicht zu kurz kommen, sorgt Jordan mit ungemeiner Umsicht und Sensibilität, seine gekonnte Interpretation trägt auch die Besetzung durch den musikalisch an Spannung nie nachlassenden Abend. Thomas Lang hat den Chor der Wiener Staatsoper gut präpariert und wird differenzierter Chorgesang in die Aufführung eingebracht. Die kleinen Rollen sind unauffällig solide besetzt – Ileana Tonca (Stimme vom Himmel), Hiroshi Amako (Graf von Lerma, Herold), Ilia Staple (Tebaldo) und Ivo Stanchev – als Mönch doch etwas zu leichtgewichtig. Wenig bedrohlich und ungefährlich, rollenimmanent unpassend, weil etwas gemütlich, klingt der Bass von Dmitry Ulyanov als Großinquisitor. Roberto Tagliavini singt Philipp II. zum ersten Mal überhaupt im Rahmen dieser Premierenserie und verfügt mit seinem wunderbar italienisch gefärbten Bass noch zu wenig an Persönlichkeit und Ausdruck für eine der größten Rollen für einen Bassisten überhaupt, da wird in den nächsten Jahren noch viel mehr an Rollengestaltung dazukommen. Rodrigo, Marquis von Posa wird von Ètienne Dupuis ungemein stark, bisweilen zu stark forciert gesungen, die Rolle sollte einem echten, kantablen Kavaliersbariton anvertraut werden, was Dupuis mit seinem enorm kräftigen Bariton nicht ist. In der Titelrolle ist Joshua Guerrero aufgeboten, sein Tenor klingt zu eindimensional, mit schönen Höhen, wenig profund in der Tiefe, vermag aber mit Emphase im Ausdruck durchaus zu überzeugen. Die besten sängerischen Leistungen erbringen an diesem Abend die Damen: Eve-Maud Hubeaux mit hellem, großem Mezzosopran als fulminante, leidenschaftliche Eboli und Publikumsliebling Asmik Grigorian als Elisabetta. Deren große Szene und Arie im vierten Akt hat man lange nicht mit derartig wunderbarem Leuchten und Strahlen in den Höhen gehört, die Top-Sängerin weiß nach etwas zögerlichem Beginn im Verlauf des Abends auch mehr und mehr mit lyrischen Phrasen und dramatischen Ausbrüchen zu überzeugen.

Was nun die Szene betrifft, fesselt an dieser Neuproduktion im Ersten Haus am Ring – ausgenommen eine genau gearbeitete, gekonnte, wenngleich auch nicht überzeugende, Personenregie und Personenführung – bedauerlicherweise so gut wie nichts, ja kommt diese Regiearbeit einem szenischen Desaster gleich. Staatsoperndirektor Dr. Bogdan Roscic setzt nämlich schon zum zweiten Mal nach „Parsifal“ auf den russischen Film-, Theater und Opernregisseur Kirill Serebrennikov, einem ausgewiesenen Regieberserker und Stückezertrümmerer. Für diesen bedeutet „Don Carlo“ zwar Verdis „opus magnum“ und „ein apokalyptisches Drama über die Macht“, wie er selbst im Vorfeld der Produktion erklärt, allein, was dann auf der Bühne zu sehen ist, vermittelt von all‘ dem im Grunde überhaupt nichts. Angesiedelt ist das Werk im trostlos kalten Ambiente eines Instituts für Kostümkunde, von einem Originalschauplatz im japanischen Kyoto inspiriert. Für die Ausstattung ist der Regisseur selbst verantwortlich, für das bisweilen eisig kalte, jeglicher Plastizität wie Stimmigkeit entbehrende Licht Franck Evin. Die spanischen Hoftrachten des 16. Jahrhunderts haben den Regisseur zu einer szenischen Auseinandersetzung über die Gefangenschaft des menschlichen Körpers in Vergangenheit und Gegenwart angeregt, die alte Mode am Hof bringt Serebrennikov mit den verheerenden Bedingungen der heutigen Textilproduktion, -vermarktung und -entsorgung in Verbindung. Don Carlo, Elisabetta und Eboli sind Angestellte in diesem Kostüminstitut, das von Philipp II. autokratisch menschenverachtend geführt wird. Der Grossinquisitor ist ein die Bedingungen diktierender Großkunde. Marquis Posa, mit ähnlichem Trainingsanzug und Strickhaube kostümiert wie Serebrennikov, geistert als Alter Ego des Regisseurs durch die Handlung: In diesem Unsinnswust überzeugen nur die aufwändigen Hofkostüme aus dem 16. Jahrhundert, die originalgetreu rekonstruiert wurden und von der Komparserie getragen werden. Die Protagonisten schlüpfen zu allem Übermaß selbst hin und wieder in historisch angehauchte Kostüme, sodass die Ebenen verschwimmen: Jemand, der das Stück nicht kennt, versteht dann so gut wie gar nichts mehr, zumal in der vieraktigen Mailänder Fassung ja auch der einleitende, erläuternde wie erhellende Fontainebleau-Akt fehlt. Dass Verdis „Don Carlo“ mit seiner großartigen Musik, aus der das Drama entwickelt und erzählt werden sollte, von einem diktatorisch monarchischen Staat handelt, der seinerseits wieder nur vom inquisitorischen Klerus regiert wird mit all‘ seinen aufklärerischen Bestrebungen nach Gedankenfreiheit und Freiheit überhaupt, scheint Serebrennikov verborgen geblieben zu sein, gerade diese Tatsache ließe sich aber überzeugend in unsere Zeit übertragen. Während der Premiere soll es dem Vernehmen nach bereits Missfallenskundgebungen gegen den amtierenden Staatsoperndirektor gegeben haben, nach der Premiere wurde der Regisseur mit einem Buhorkan sondergleichen abgestraft, und auch bei der besuchten zweiten Aufführung der aktuellen Aufführungsserie am 29. September 2024 waren unmissverständlich negative Äußerungen gegen diese Regiearbeit deutlich zu hören.

Die Ausführenden sind jedenfalls nicht für diesen veritablen Inszenierungsflop zur Verantwortung zu ziehen, glücklicherweise dankt das Publikum am Ende mit tosendem Applaus für die gediegenen musikalischen Darbietungen.

Themenschwerpunkte
Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert