Von diesem Schiff gibt es kein Entrinnen – Benjamin Brittens BILLY BUDD als Wiederaufnahme an der Wiener Staatsoper

"I'd have died for you, save me!" - Gregory Kunde (Edward Fairfax Vere) und Huw Montague Rendall (Billy Budd) in Benjamin Brittens BILLY BUDD © Wiener Staatsoper / Sofia Vargaiova

Es war einer der am meisten gefeierten Premierenabende der Wiener Staatsoper in der Ära von Ioan Holender – am 12. Februar 2001 die österreichische Erstaufführung der vieraktigen, 1951 uraufgeführten Originalfassung von BILLY BUDD, der Oper mit dem Text von E. M. Forster und Eric Crozier nach der gleichnamigen zwischen Erzählung und Roman stehenden Novelle von Herman Melville und der Musik von Benjamin Britten. Nach dem überragenden Erfolg der Premiere avancierte die Produktion zu einer der besten der Wiener Staatsoper in den letzten Jahrzehnten überhaupt und wurde die Inszenierung von Willy Decker immer wieder einmal als musikalische Neuaufnahme neueinstudiert. Die Regiearbeit des Regisseurs, der von Wolfgang Gussmann (Bühne und Kostüme) unterstützt wurde, hat auch in der 30. Aufführung am 30. Oktober 2024 nichts von ihrer zwingenden Unmittelbarkeit eingebüßt. In reduzierter Ausstattung eines grau-schwarzen Schiffsbildes und historischen Kostümen der englischen Marine Ende des 18. Jahrhunderts geht Decker diesem über den Maßen spannenden Werk auf den Grund, sodass die dramatische Handlung auf der Bühne nach wie vor betroffen macht und müssten gerade junge Leute, die den Schritt ins Musiktheater wagen, gerade dieser Inszenierung viel abgewinnen können, weil extrem filmisch konzipiert. Deckers detailgenaue Zeichnung der Charaktere besticht nach wie vor und sind seine Personenführung und Personenregie einfach superb. Das auf den damaligen englischen Kriegsschiffen herrschende rohe wie grausame Elend, wie Decker es mitfühlend auf die Bühne hievt, und die Verstrickung aller an Bord darin, von diesem Schiff gibt es nämlich kein Entrinnen, ist in seiner Intensität und Tiefe an Gefühlen nach wie vor beklemmend nahe an den Abgründen von Melvilles Romanvorlage. Sensibel gestaltet der Regisseur auch das Thema der in der Oper thematisierten und permanent latent schwelenden Homosexualität. Und man spürt in dieser subtil feinfühligen Regie wie die Nebel der See förmlich in die Nebel des schlechten Gewissens Veres übergehen.

Seit der Premiere, wo Neil Shicoff, der in der Rolle des Edward Fairfax Vere nahezu aufgegangen war, mit ihr zu verschmelzen schien und einen seiner größten persönlichen Triumphe im Haus am Ring feierte, und wo mit Bo Skovhus in der Titelrolle und Eric Halfvarson als John Claggart ebenbürtige Partner auf der Bühne standen, haben Sänger wie Michael Roider als Vere, Adrian Eröd, Russell Braun und Simon Keenlyside in der Titelpartie sowie James Morris oder Kurt Rydl als Claggart reüssieren können. Und auch die Besetzung der aktuellen Serie kann sich mehr als nur hören lassen. Mit voluminösem wie gleichzeitig weichem Bass ausgestattet, gelingt Brindley Sherratt eine durch und pervers böse, abartige, hinterhältige Studie des Waffenmeisters Claggart. Huw Montague Rendall überzeugt als naiver, guter, von allen geliebter Vortoppmann Billy Budd mit geschmeidig geführtem Bariton: Sein an Vere gerichtetes Flehen „I’d have died for you, save me!“ vor seiner Verurteilung zum Tod durch den Strang geht buchstäblich unter die Haut, in der Szene vor seiner Hinrichtung weiß er ungemein zu berühren. Mag Gregory Kunde als Kapitän Vere auf der „Indomitable“ nun nicht der intensive Darsteller sein wie es der in dieser Rolle einzigartige Neil Shicoff gewesen ist, klingt die Stimme des siebzigjährigen Tenors doch den ganzen Abend über phänomenal. Ob in den lyrisch intensiven Betrachtungen des Prologs und des Epilogs, ob in der großen Ansprache Veres im Finale des ersten Aktes (diese hatte Britten auf Rücksicht auf seinen Lebensgefährten Peter Pears, der mit dieser langen Partie vokal seine Schwierigkeiten hatte, im Zuge der Umarbeitung seiner Oper in eine zweiaktige Fassung nach der Uraufführung gestrichen), ob im Standgericht am Ende des dritten Aktes, wo Vere von heftigen Zweifeln und inneren Kämpfen geplagt ist: Kunde singt mit einer nie nachlassenden, staunenswerten Intensität, exemplarischen Ausdrucksstärke und imponierender Größe wie heldischer Gestaltungskraft. Sehr gut besetzt sind auch die Offiziere – prägnant stark Adrian Eröd als Erster Leutnant Mister Redburn, markant Wolfgang Bankl als Navigationsoffizier Mister Flint und Attila Mokus als Leutnant Ratcliffe. Aus den kleinen Rollen ragt Dan Paul Dumitrescu als bewegender Dansker heraus. Was die weitere musikalische Seite des Abends betrifft, hat Martin Schebesta den Chor der Wiener Staatsoper ausgezeichnet für seine schöne Aufgabe präpariert, fein differenzierter Chorgesang ist da zu vernehmen, besonders signifikant gerät das monoton wiederkehrende „O heave!“ zu Beginn des ersten Aktes.

Wie PETER GRIMES hat BILLY BUDD einen engen Bezug zum Meer und weist größere orchestrale Passagen auf. „In BILLY BUDD, der die ganze Zeit auf hoher See spielt, hört man das Meer hingegen gar nicht“, so der Dirigent der aktuellen Wiederaufnahme, Mark Wigglesworth, „man hört die Bewegung des Schiffes auf dem Meer“. Diesen wesentlichen Aspekt der Partitur von BILLY BUDD umzusetzen, gelingt ihm mit dem Orchester der Wiener Staatsoper höchst überzeugend, weil unter permanenter Spannung stehend, sodass das Werk mit seinem immerwährenden Fließen unter seiner Stabführung einen beeindruckenden, wirkungsvollen Sog entfaltet. Mit Ausnahme der Trompeten ist die Formation im Graben, wo zurzeit nur wenige Wiener Philharmoniker wegen der großen Asien-Tournee des Orchesters Platz nehmen können, in allen Instrumentengruppen gut disponiert und ist die Orchesterleistung an diesem gelungenen Abend von reicher musikalischer Dichte gekennzeichnet.

Zum Schluss gibt’s großen Jubel für alle Beteiligten: Diese Produktion sollte man unbedingt (wieder) erleben.

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Portait Thomas Rauchenwald
Thomas Rauchenwald
Autor des Blogs „Simply Classic“

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