Es ist gemeinhin bekannt, dass der stark von katholisch-religiösen Moralvorstellungen geprägte französische Diplomat, Schriftsteller und Philosoph Paul Claudel eine einfache Dorfmesse der Pseudoreligiosität in Richard Wagners Bühnenweihfestspiel vorgezogen hatte und kann ein gewisses Unbehagen an diesem „Parsifal“ auch die Neuinszenierung des Werkes des deutschen, bislang im Schauspiel stark hervorgetretenen, in letzter Zeit aber immer mehr Opern inszenierenden Regisseurs Michael Thalheimer an der Oper Genf nicht verleugnen. Im Liebesmahl bei Wagner werden Fleisch und Blut zu Brot und Wein – nicht wie während des letzten Abendmahls und wenn das Sakrament der Heiligen Eucharistie während einer Messe begangen wird, Brot und Wein in Fleisch und Blut verwandelt. Diese Umkehr der Transsubstantiation ist auch ein wichtiger Aspekt für Thalheimers vom Ansatz her höchst interessanter Regiearbeit, ja ist dieser Regisseur doch wie kaum ein anderer besonders intensiv am Text ausgerichtet und dabei so ungemein nahe am Stück, dass man Wagners Dichtung von Thalheimers Inszenierung überhaupt nicht trennen kann. Szenisch wie gestisch hat der Regisseur ein Mittel der extremen Reduktion gewählt, was Ausstattung wie Personenregie gleichsam betrifft. Die Gralsritter allesamt wie auch Amfortas und Gurnemanz – letzterer während der ganzen Aufführung auf Krücken sich fortbewegend, welch‘ physische Herausforderung mag das noch zusätzlich für den Sänger bedeuten – sind eine von Wunden übersäte, verloren verwahrloste Männergesellschaft mit blutverschmierten, weißlich grauen Gewändern. Überhaupt scheint alles in dieser Regie Blut, Wunde zu sein. Zu den Worten „Nehmet hin mein Blut, nehmet hin meinen Leib!“ bzw. „Nehmet hin meinen Leib, nehmet hin mein Blut!“ rinnt Blut von der Wand, bildlich stark inspiriert von Hermann Nitsch‘ Schüttbildern. Auf Requisiten verzichtet Thalheimer beinahe zur Gänze; neben den bereits erwähnten Gehhilfen Gurnemanz‘ gibt es noch den Lanzenspeer und eine Pistole. „Mit diesem Zeichen bann‘ ich deinen Zauber. …“ – zu diesen Worten breitet Parsifal die Arme aus und erinnert so an den ans Kreuz geschlagenen Erlöser, sodass Klingsor, in dieser Inszenierung ein gefährlicher Neurotiker, vor Schreck wie gelähmt dasteht und von Kundry mit der Pistole erschossen wird, was in dieser Regie sogar Sinn macht. Auf Parsifals Bogen verzichtet Thalheimer ebenso wie auf den Gralskelch: „Wie hell grüßt uns heute der Herr!“, so der entzückte Titurel, wie so oft aus dem Off singend, während der Gralsenthüllung und ist der Gral in dieser Regie und in beiden Gralsszenen konsequent als reine, schimmernde Lichtsäule auf der Bühne zu sehen, weshalb auch dieses stimmig ästhetische Bild eindrucksvoll verdeutlicht, wie eng verzahnt Libretto und Regie in dieser Produktion, die auch noch an der Deutschen Oper am Rhein gezeigt werden wird, sind. Thalheimer wird bei seiner glücklicherweise ohne Rahmen- oder Parallelhandlungen auskommenden, ganz auf das Stück gerichteten Arbeit – sparsamst, aber ungemein packend wie ergreifend – auf kongeniale Art und Weise unterstützt von Henrik Ahr, der ihm neben zweier sich nach hinten verjüngenden, quaderartigen Wände und einer solchen, die Szene hinten abschließenden Wand mit einem Spalt für die Auftritte von Parsifal, Amfortas und Klingsor nur noch eine Plattform nach vorne auf die Bühne baut, worauf das Geschehen zentriert ist. Nebenbei erweist sich diese Bühnenkonstruktion als optimale akustische Voraussetzung, weil die Singstimmen hervorragend in den Zuschauerraum reflektiert werden. Michaela Barth ist verantwortlich für die einfachen, zeitlosen Kostüme, Stephan Bolliger für die grandiose Lichtregie, der die Gralsburg in kaltes, leidenschaftsloses Licht hüllt, Klingsor ein dunkles Zauberschloss schafft und während des Karfreitagszaubers die Bühne in hell-ockerfarbenes Licht synonym für die Natur taucht. Es sind überwiegend einfache Bilder, die aber durch strikte Zentrierung auf das Wesentliche so ungemein stark wirken, ja dadurch eine archaische Wucht und Unerbittlichkeit entfalten. Und was besonders bemerkenswert ist, dass Thalheimer das Werk neben dem Text auch ganz aus der Musik heraus und mit dieser im Einklang stehend inszeniert: Dabei verzichtet er zur Gänze auf überflüssige, effekthaschende Videos oder plumpe Choreografien. Personenregie und Personenführung entbehren zwar nicht einer gewissen Statik, sind aber durchdacht und weisen hohe Stringenz auf. Dieser „Parsifal back tot he roots“, wie man geneigt zu sagen ist und in seiner Einfachheit an die legendäre, Bühne wie Szene entrümpelnde, legendäre Bayreuther Nachkriegsinszenierung von Wieland Wagner gemahnt, macht schlicht beklemmend. Im dritten Akt erscheint Parsifal nach seiner Irrfahrt dann als Joker. Der reine Tor als Option, der die Erlösung bringen soll? Diese Erlösung hat bei Thalheimer, falls sie überhaupt stattfindet, folglich einen überaus schalen Beigeschmack. Bei diesem Regisseur sind denn auch keine (christlichen) Rituale zu sehen, kein Abendmahl, keine Fußwaschung, keine Salbung, keine Taufe, was wohl einer klaren Ablehnung von Wagners Kunstreligion, der Erlösung durch die Kunst als dessen dramatisches Resümee, gleichkommt.
Der Dirigent der aktuellen Genfer Serie, Jonathan Nott, war früher auch als Leiter des von Pierre Boulez gegründeten Ensemble intercontemporain tätig und zählt(e) der komponierende, große französische Dirigent wohl überhaupt zu den besten Interpreten von Wagners letztem Musikdrama. Obwohl Nott nicht ganz den nahezu süchtig machenden Sog von Boulez erreicht, lässt er das Orchestre de la Suisse Romande, dem er als Chefdirigent und künstlerischer Leiter seit 2017 vorsteht, auch in der dritten Aufführung der aktuellen Premierenserie am 29. Jänner 2023 mit höchster Transparenz und Klarheit musizieren, sodass ein überwiegend luftig leichter, fein schimmernder, mild leuchtender Klang dominiert. Notts Gangart ist nie schleppend, von Anfang bis zum Schluss gelingen dem Dirigenten lang gehaltene Spannungsbögen wie aus einem Guss, was die Spieldauer der einzelnen Akte – 100, 65, 70 Minuten in etwa – deutlich unterstreicht. Auffallend, wie der Dirigent mit der formidablen, in allen Instrumentengruppen hervorragend disponierten Formation, die Dynamik jeweils gegen Ende der einzelnen Aufzüge steigert. Besonders expressiv gestaltet Nott die langen Solopassagen der einzelnen Protagonisten auf der Bühne, die dennoch immer hörbar bleiben und nie zugedeckt werden, was auch an der reduzierten Streicherbesetzung – nur vier Kontrabässe und die entsprechend verminderte Anzahl der übrigen Streichinstrumente – liegen mag. Derartiges Musizieren sorgt für wunderschöne, wunderbar gemischte Orchesterfarben und abgestufte Schattierungen; wesentlich stärker als gewohnt sind dadurch auch die Gralsglocken wahrnehmbar. Klangsatte, lähmende Weihe kommt auch in der Musik nicht auf, weshalb das Dirigat, selten genug, im totalen Einklang mit der Inszenierung steht. Der von Alan Woodbridge einstudierte Choeur du Grand Theatre de Geneve kann bisweilen noch an der Wortdeutlichkeit arbeiten, selten aber hört man die Chöre im „Parsifal“ so eindringlich gesungen, was ebenso für die stimmstark agierenden Blumenmädchen gilt. Solide Gesangsleistungen sind von den Knappen und Rittern aus dem Genfer Ensemble zu hören.
Die an der Genfer Oper aufgebotene Besetzung ist nicht nur selten homogen, sondern auch durchwegs exzellent. Neben den soliden Rittern und Knappen orgelt William Meinert einen sonoren Titurel und steuert Martin Gantner einen beißend teuflischen, dämonischen Klingsor mit charakterstarkem Bariton bei. Tanja Ariane Baumgartner, die einzige Protagonistin, die in der Premiere der laufenden Serie nicht ihr Rollendebüt feierte, wächst immer mehr in die Partie der Kundry hinein und singt eine Höllenrose mit beinahe glühend leuchtendem, sinnlich loderndem, vollem Mezzosopran; lediglich an ihrer Wortdeutlichkeit muss sie noch ein wenig feilen. Christopher Maltman agiert mit großem, männlich markantem Bariton als Amfortas und setzt nur hin und wieder ein wenig zu viel des Guten an Vibrato als Gestaltungsmittel ein. Daniel Johansson ist ein jugendlicher, geschmeidiger Parsifal mit sehr gut fokussiertem Tenor, den er mit lyrischer Emphase sehr sicher zu führen vermag. Die beste Gesangsleistung des Abends vollbringt aber uneingeschränkt Tareq Nazmi als Gurnemanz, der die lange Rolle weder weich balsamisch abschattiert noch altväterlich behutsam anlegt, sondern mit kräftigem Bass ohne jegliche Anstrengung souverän, gehaltvoll und ausdrucksstark interpretiert und dessen herausragende Artikulation in ihren Bann zieht. Eine Reise nach Genf lohnt wegen szenischer und musikalischer Interpretation gleichermaßen.