In ihrer letzten Neuproduktion der laufenden Saison setzt die Wiener Staatsoper auf ein eher selten gespieltes Werk, auf die „Dialogues des Carmélites“ des Franzosen Francis Poulenc mit dem Text nach dem Drama von Georges Bernanos. 1964, vor fast sechzig Jahren, war das Werk zum letzten Mal im Haus am Ring zu erleben und nun erst jetzt wieder in der aktuellen Premierenserie, dieses Mal erstmals im französischen Original.
Ist der Text zu diesem Stück schmucklos, erhaben, bleibt Poulenc diesem Umstand treu, indem er eine an Monteverdi orientierte, reine, in fließenden Melodielinien daherkommende Musik geschaffen hat, in die man nach und nach hineingezogen wird. Der große Liedkomponist setzt, der Textverständlichkeit wegen, das groß besetzte Orchester dabei diskret ein, es kommt ihm auf Wortfärbung und Artikulation an. Arien oder andere konventionelle Opernformen fehlen, in einer feinen Mischung aus Rezitativ und Lyrik wird zwischen Stimmen und Orchester raffiniert und diskret eine musikalische Ausgewogenheit erreicht. All das wird von Bertrand de Billy am Pult des hervorragend disponierten Orchesters der Wiener Staatsoper souverän und mit nobler Akkuratesse umgesetzt; Poulencs schimmernd fließende Musik mit wenigen, dramatisch aufgeputschten Höhepunkten ist bei diesem Dirigenten in den besten Händen, der auf das Stück abonniert zu sein scheint, begleitet es ihn bereits ein Leben lang, was Produktionen in München, New York und natürlich auch 2008 und 2011 im Theater an der Wien, in der Regie von Robert Carsen, belegen. Nicht nur, dass die Musik vollends zum Leuchten gebracht wird, entfacht Billy am Schluss einen einzigartigen Sog, wenn sich Chorgesang – der Chor der Wiener Staatsoper wurde von Thomas Lang bestens für seine Aufgabe präpariert – und Orchester aufbäumen. Der Wirkung der Hinrichtungsszene, wenn die Frauenstimmen nach und nach verebben, beeindruckend in dieser musikalischen Umsetzung, kann sich wohl niemand im Publikum entziehen.
Auf der Habenseite dieser Produktion steht auch in der besuchten Dernière am 2. Juni 2023 ein erlesenes Ensemble, vor allem an Sängerinnen. Was die Herren in diesem Stück betrifft, werden deren nicht gerade großen Aufgaben von Bernard Richter (Chevalier de la Force) mit hellem, kräftigem Tenor am besten erfüllt, solide agieren Attila Mokus (Marquis de la Force), Thomas Ebenstein (Beichtvater) und der soeben zum österreichischen Kammersänger ernannte Clemens Unterreiner (Kerkermeister). Zur puren Freude geraten aber die Damen an diesem Abend: Michaela Schuster mit ihrem starken Mezzosopran und einer eindrucksvollen Stimm- wie Charakterstudie als im Sterben leidende, aber immense Disziplin und Größe bewahrende Madame de Croissy, Eve-Maud Hubeaux mit großem, dramatisch loderndem Mezzo als Mére Marie, Maria Motolygina als ebenmäßig prägnante Madame Lidoine, Maria Nazarova als stimmlich bezaubernde Soeur Constance, Monika Bohinec als aus dem Ensemble herausragende Mére Jeanne und vor allem die einfach hinreißende Nicole Car als Blanche, die mit feinnervigen wie expressiven Soprangesang in der Rolle zu bewegen wie berühren vermag.
Ist stimmlich wie musikalisch eine erstklassige, formidable Umsetzung von Poulencs doch sehr speziellem Werk gelungen, kann die Szene da nicht mithalten. Die junge Regisseurin Magdalena Fuchsberger, offensichtlich überfordert von der großen Aufgabe, an der Wiener Staatsoper Musiktheater zu inszenieren, hat zum Werk so gut wie nichts zu sagen bzw. ist ihr nichts Wesentliches dazu eingefallen. Ein sich ständig drehendes, groß dimensioniertes Holzkonstrukt dominiert die Bühne (Monika Biegler), nach allen Seiten hin offen, sollten doch die Szenen bzw. Dialoge zwischen den Insassinnen eines Karmeliterinnenklosters doch in geschlossenen, engen Räumen, die mitunter beklemmenden Situationen unterstreichend, stattfinden. Daneben tummeln sich allerlei Figuren (Gespenster, Perchten, Allegorien), die mit Stück und Handlung wenig gemein haben, offenbar zur Verdeutlichung der Seelenzustände der Akteurinnen – in Seelenräumen, in einer Art mehrschichtigen Szene? Viele Fragen wirft diese Regiearbeit auf, nur wenige davon werden beantwortet, Personenregie wie Personenführung sind wohl Fremdworte für die junge Regisseurin. Wären vor allem die Damen auf der Bühne nicht um ausgewiesene Darstellung wie Gestaltung bemüht, könnte die ganze Aufführung gut und gerne auch nur konzertant gespielt werden. Durch die Hauptfigur, die junge Schwester Blanche, werden die Bereiche Angst, Tod und Gnade untersucht; in der durch und durch psychologischen Oper überwindet sie ihre Angst und schließt sich wieder den Karmeliterinnen an, um gemeinsam mit diesen den Märtyrertod zu sterben. Der historische Hintergrund ist in Poulencs Werk durch bedrohliche Darstellungen des als Grande Terreur bekannt gewordenen Regimes in Frankreich von 1792 bis 1794 geprägt. Das alles vermisst man in Fuchsbergers belangloser Regie wie auch die psychologische Entwicklung der einzelnen Gestalten, die zwangsläufig auf den furchtbaren Höhepunkt hinausläuft, wenn die Karmeliterinnen nacheinander das Schafott besteigen und das dumpfe Aufschlagen des Fallbeils durch das Orchester widerhallt. Zur Hinrichtung sind die Frauen in viel Stoff gehüllt (Kostüme: Valentin Köhler), gesichtslos, konturenlos – bar jeder Individualität? Was könnte man doch aus dieser im Grunde völlig niederschmetternden Szene machen! Und ja – Videos (Aron Kitzig), gibt es auch, wie Gemälde, in einer Art Kirchenfenster oberhalb des Holzungetüms auf der Bühne, nicht immer verständlich. Blanche erleidet schließlich keinen Tod am Schafott, sondern stirbt vermutlich durch einen Bauchschuss, sinkt sie am Ende doch aus dem Körper blutend zu Boden … Musik und Szene driften weit auseinander in dieser Neuproduktion der einzigen abendfüllenden Oper von Poulenc in Wien.
Die Wiener Staatsoper bietet zum Saisonschluss dem Publikum noch einen besonderen Höhepunkt im Repertoire, wenn die bulgarische Sopranistin Sonya Yoncheva, mittlerweile eine der führenden Sopranistinnen im Operngeschehen überhaupt, am 20. Juni 2023 ihr weltweites Rollendebüt als Giacomo Puccinis „Madama Butterfly“ gibt.
Für die Sängerin hat, wie sie im Vorfeld dieses Debüts selbst bemerkt, all das Psychologische und Darstellerische dieses Werkes, das für manche das bewegendste aller Bühnenwerke darstellt, größte Auswirkungen auf das Gesangliche und Musikalische. Wie gestaltet sie nun diese Figur, die auf geradezu selbstzerstörerische Weise an die Liebe ihres Lebens glaubt? Nun, die Anspannung bei dieser herausfordernden Aufgabe ist ihr anzumerken. Sie geht an diese lange, schwere Partie vorsichtig heran und ist bei ihrem Auftritt zunächst stimmlich noch etwas zurückhaltend. Im Liebesduett mit Pinkerton ist sie zu Beginn noch ganz schüchternes, junges Mädchen, bis ihre Stimme nach und nach von Leidenschaft durchflutet wird, als sie ihm schließlich erliegt und stimmlich das Begehren der jungen Frau aufleuchtet. Mit ihrer edel timbrierten Stimme hebt sie diese „Butterfly“ – und das ist ganz große Kunst – im Laufe des Abends auf die Ebene einer echten Tragödie und weist sich dabei auch selbst als echte Tragödin auf der Bühne aus, die immens zu berühren vermag. Stimmtechnik und Stimmführung sind nahezu als superb zu bezeichnen. „Un bel di vedremo“ ist keine große Shownummer einer Sopranistin, sondern ganz in das Drama integriert; ihr abschließendes „Aspetta!“ kommt einem Aufschrei gleich, der direkt ins Herz fährt und spätestens hier erfährt das Publikum, dass sich diese bedingungslos Liebende im Glauben an die Rückkehr Pinkertons zu ihr nur noch etwas vormacht. Schon beinahe unerträglich intensiv, unerträglich bewegend ist sie in der Szene mit ihrem Kind von Pinkerton, das ihr von ihm weggenommen werden wird. In der Schlussszene schließlich, wenn sie, alleingelassen, Harakiri begeht, entfaltet sie noch einmal ihre volle, große, ungemein starke Stimme, womit sie das erschütterte Publikum nun vollends zu überwältigen vermag. Chapeau! So hört sich ein wahrlich gelungenes, ja beeindruckendes Rollendebüt an; diese derart vollendete Rollengestaltung in all ihrem Schmerz ist jedoch eine Erfahrung, der sich Ihr Rezensent nicht allzu oft aussetzen kann.
Stellt auch die Inszenierung von Anthony Minghella und Carolyn Choa mit ihrem Farbenmeer, ihrem Farbenrausch und ihrer formidablen Lichtregie einen Glücksfall für das Haus dar, können mit der exemplarischen künstlerischen Leistung von Frau Yoncheva die übrigen ProtagonistInnen nicht mithalten. Charles Castronovo als Pinkerton verfügt zwar über eine sehr gute Stimm- wie Phrasierungskultur, sein einschmeichelnder Tenor ist für das Haus jedoch zu klein, um sich voll entfalten zu können. Gewohnt mehr als solide, mit kernigem Bariton ausgestattet, singt Boris Pinkhasovich den Sharpless; Szilvia Vörös gibt eine brave Suzuki. Dass „Madama Butterfly“ keine veristische Oper ist, auch wenn es in der Partitur Momente gibt, die eine Art Verismo bieten, man ein wenig Claude Debussy und auch ein wenig Richard Wagner hören kann, macht der Dirigent des Abends, Antonello Manacorda, mit dem Orchester der Wiener Staatsoper mehr als deutlich, indem er auf spannungsgeladene Dramatik und Lautstärke, weniger auf süffiges Schwelgen setzt. Für eine ausgefeilte Interpretation mangelt es ihm aber an feinem Pinselstrich wie Sinnlichkeit, weshalb alles an diesem Abend vom ergreifenden Rollenporträt von Sonya Yoncheva überstrahlt wird.