Neben den „Meistersingern“ ist „Tannhäuser“ das eigentliche Künstlerdrama Richard Wagners, findet sich hier seine widersprüchliche Persönlichkeit doch am deutlichsten gespiegelt. An der für seine innovative Ausrichtung bekannten Opera National de Lyon war die dreiaktige romantische Oper aus der Feder des Bayreuther Meisters zuletzt 1971 zu erleben, bis das Werk nunmehr unter der neuen Intendanz von Richard Brunel zu Beginn der aktuellen Saison in einer Neuproduktion gezeigt wird, die im zweiten und dritten Akt auf die „Dresdner Fassung“ zurückgreift, im ersten Akt jedoch der „Pariser Fassung“ mit dem Bacchanal und der stark erweiterten Venus-Szene folgt.
In der Inszenierung von David Hermann sind die Liebesgöttin Venus und ihre sechs Gespielinnen Androide, also Maschinen in Menschengestalt, fleischlose, erotikpuppenähnliche Wesen, weshalb man sofort an Ridley Scotts Kultfilm „Blade Runner“ erinnert wird. Virtual Reality im Venusberg – kein Wunder, dass Tannhäuser diesem perfektem Illusionenpuff mit digital generierten Lustmaschinen entfliehen möchte und sich nach dem natürlichen Leben mit Frauen aus Fleisch und Blut sehnt, nicht einmal das Komponieren war ihm bei dieser künstlichen Frau Venus möglich. „Les Paradis artificels“ hat es Charles Baudelaire formuliert und „diesen Ort aller Transfiguration“ könnte Wagner durchaus vorweggenommen haben, weshalb dieser Regiekniff Hermanns durchaus berechtigt ist, ja mehr noch, sogar überzeugt, weil in einer gewissen Art und Weise optisch ästhetisch umgesetzt. Eine von Venus Gespielinnen mutiert denn auch zum bei Hermann weiblichen Hirten und begleitet Tannhäuser fortwährend durch die Handlung. In der Wartburgwelt wähnt man sich auf einer Mond- oder Marslandschaft, die Sängerhalle ist eine Wüstenstation oder ein Militärflughafen, Landgraf Hermann und die Minnesänger stellen eine ruppig rauhe Gesellschaft dar, Elisabeth erinnert zunächst an eine Partisanin, bevor sie sich für den Sängerstreit die mittelalterliche Robe überzieht, die Frauen, die dem Wettgesang lauschen, entstammen mittelalterlichen Kemenaten: Richard Wagner in der enorm dichten Bandbreite seines musikdramatischen Schaffens hat schon viel ausgehalten und hält immer noch viel aus. Die Kostüme der Herren auf der Wartburg bzw. der Ort, wo Hermann diese Szene ansiedelt, lassen auch Gedanken an ein IS- oder Afghanen-Terrorcamp aufkommen. Derartige Gesellschaften sind intellektuell und wertemäßig ja im Mittelalter stehengeblieben: Will der Regisseur mit dieser Assoziation eine Brücke zur hochmittelalterlichen Handlung Richard Wagners bauen? Spannenderweise gelingt es Hermann aber im Verein mit Jo Schramm (Bühne), Bettina Walter (Kostüme) und vor allem mit der famos stimmigen Lichtregie von Fabrice Kebour mit seiner Inszenierung zu beeindrucken, erfasst er das Werk doch allemal in seinem Wesen: Die Künstlerproblematik, gegen Konservativismus, Dogmen und Moralanschauungen zu postulieren und derart mit der Gesellschaft in Konflikt zu geraten, die Sehnsucht des Anarchisten Tannhäuser nach der geistig hohen Liebe der Frau Elisabeth, die aber im feindlichen Umfeld der Wartburggesellschaft steht, weshalb er sein Ideal auf die erdig lustvolle Erotik der Venus verlagert, die aber seine künstlerische Kraft lähmt, die Erlösung, die im Text, nicht aber in der Musik stattfindet. In Kombination mit einer überdeutlich psychologisch fundierten und ganz aus dem Geist der Musik Wagners herausgearbeiteten Personenregie gelingt dem Regisseur zwar eine Regiearbeit sehr spezifisch eigenwilliger Art, wovon am Ende aber überaus starke, ja bisweilen beklemmende Bilder in Erinnerung bleiben: Der weibliche Hirte wird dem der Gesellschaft Abtrünnigen auf seiner Pilgerfahrt nach Rom angeschnallt. Sehr überzeugend der gesamte dritte Akt: Wieder schwebt über der Szene der riesige, den farbigen Boden grandios spiegelnde Schutzschild über der Szene wie im zweiten Bild des ersten Aktes; Elisabeth stirbt nicht, sondern steigt gemeinsam mit dem weiblichen Hirten hinab ins gleißend helle Reich der Venus. Mag dieser „Tannhäuser“ szenisch nicht in allem restlos zu überzeugen, die Auseinandersetzung mit dieser Inszenierung, wenige Details ausgenommen, lohnt allemal. Und hat nicht Wagner selbst einmal gesagt: „Kinder, schafft Neues!“: Es scheint, der Regisseur Hermann hat auch nach diesem Postulat gehandelt.
Mittlerweile zum Musikdirektor der Opera Lyon avanciert, debütiert der gebürtige Italiener Daniele Rustioni mit „Tannhäuser“ nun auch im deutschen Fach und es kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, was dieser Dirigent aus dem Orchester des Hauses herauszuholen vermag. Von Beginn an dominiert ein schlanker, transparenter, ja man möchte fast sagen luzid mediterraner Klang. Überwiegend zügig und glutvoll durchmisst Rustioni das Werk, wobei die groß angelegten Steigerungen bei machtvoller Klangentfaltung ebenso wenig vermisst werden. Die stärksten Gruppen im Orchester stellen die Holzbläser – herrlich zu Beginn des dritten Aktes – und die samtig weichen Celli dar. Das Geschehen auf der Bühne unterstützt Rustioni mit seiner Art zu dirigieren wo und wie er nur kann und, mag das alles zwar ein wenig aufgesetzt wirken, gibt ihm das Ergebnis nur Recht. Prächtig einstudiert klingt auch der zu plastischem wie differenziertem Chorgesang fähige Chor des Hauses: Benedict Kearns hat überzeugende Arbeit geleistet. Und was die Besetzung anbelangt, erlebt man in Lyon nahezu Weltklasse. Aus dem hauseigenen Opernstudio aufgeboten und als junger Hirt aufhorchen lassend agiert Giulia Scopelliti, der als Tannhäuser begleitende Avatarin auch darstellerisch einiges abverlangt wird. Ebenso aus dem Opernstudio stammen Robert Lewis als Walter von der Vogelweide und Pete Thanapat als fortwährend mit der Maschinenpistole wild um sich fuchtelnde Biterolf; in den weiteren kleinen Minnesängerrollen agieren, wie die Letztgenannten rollendeckend, Kristofer Lundin als Heinrich der Schreiber und Dumitru Madarasan als Reinmar von Zweter. Was die Hauptrollen anbelangt, ist zunächst zu berichten, dass alle ProtagonistInnen über an diesem Abend perfekt fokussierte Stimmen verfügen, weshalb das Zuhören diesbezüglich bereits zur großen Freude gerät. Den Landgrafen Hermann gibt Liang Li, ausgestattet mit voluminös, sattem Bass. Ganz aus der feinen Diktion eines Liedsängers heraus entwickelt Christoph Pohl mit geschmeidigem, vibrierendem Bariton den Wolfram von Eschenbach, weshalb es auch glaubhaft ist, dass Elisabeth seiner Person in dieser Inszenierung durchaus zugetan ist. Diese Elisabeth ist mit Johanni van Oostrum beinahe schon ein wenig zu stark besetzt, erinnert deren Soprangesang mitunter an abgefeuerte Leuchtraketen, was jedoch großen Eindruck hinterlässt und der Figur zusätzliche Dimensionen verleiht. Irene Roberts gefällt mit loderndem Mezzosopran als großstimmig lockende Venus, muss nur an der Wortdeutlichkeit noch ein wenig arbeiten: Aber wann hat man zuletzt solch‘ eine sinnliche Venus gehört? Und das Wagner-Urgestein Stephen Gould, für die ganze Aufführungsserie der Produktion für den ursprünglich vorgesehenen Simon O’Neill eingesprungen, begeistert heldentenoral mit posaunenhaften Stentortönen nach wie vor in der Titelrolle und legt auch noch nach mit einer an Dringlichkeit und Intensität kaum zu überbietenden Romerzählung im dritten Akt. Lyon war die Reise wert und ist selten ein so begeisterungsfähiges Publikum zu erleben, dass alle Ausführenden auch am 27. Oktober 2022 in der sechsten von insgesamt sieben Aufführungen der Serie mit standing ovations lautstark feiert.